Geschlossenes Heck als Markenzeichen und Schwachpunkt des neuen Modells
“Ein Auto ohne Heckscheibe? Dann kann ich ja gleich einen Transporter kaufen, oder?” Ganz so krass wie diese rein fiktive Äußerung sind die ersten Testurteile zum Polestar 4 nicht, aber die fehlende Aussicht nach hinten stört die Testerinnen und Tester doch erheblich. Wir haben uns die Berichte von Autocar und unserer US-Schwesterseite angesehen und referieren hier die Testergebnisse.
Einordnung und Exterieur
Der in Deutschland seit Januar bestellbare Polestar 4 ist schwer zu schubladisieren, meint Vicky Parrott von Autocar. Der Wagen liege irgendwo zwischen SUV und Coupé, Executive Car und Sportwagen. Polestar selbst ordnet den Wagen als Coupé-SUV der Mittelklasse ein, wie Kevin Williams von InsideEVs USA schreibt. Die Karosserie ist jedenfalls 4,84 m lang und 1,53 m hoch. Form und Größe liegen etwa zwischen dem Polestar 2 (4,61 m lang und 1,48 m hoch) und dem Polestar 3 (4,90 m lang und 1,61 m hoch).
Der Wagen konkurriert mit dem Porsche Macan, dem kommenden Audi Q6 e-tron Sportback, dem Tesla Model Y und dem Genesis GV60. Doch die Karosserieform hat auch etwas mit Elektrolimousinen à la BMW i4 gemeinsam.
Die Front sieht unserer Ansicht durchaus passabel aus
Plattform, Antrieb und Akku
Der Wagen basiert auf der Sustainable Experience Architecture von Konzernmutter Geely, auf der auch der Volvo EX30 oder der Smart #1 basiert, nicht aber der Volvo EX40 (CMA) oder der Polestar 3 (SPA2). Für den Antrieb sorgen ein 200-kW-Motor hinten oder zwei 200-kW-Motoren. Kevin fühlt sich an den Zeekr 001 erinnert, der die gleiche Plattform und die gleichen Motoren hat und in China sogar vom gleichen Band läuft. Beide Motorisierungen erhalten eine riesige Batterie mit 94 kWh Nettokapazität. Das sorgt für Reichweiten um die 600 km, womit die Bezeichnung Long Range berechtigt ist.
Polestar 4 Long Range Single Motor | Polestar 4 Long Range Dual Motor | |
Antrieb | RWD 200 kW, 343 Nm | RWD 400 kW, 686 Nm |
0-100 km/h | 7,1 Sek. | 3,8 Sek. |
Höchstgeschwindigkeit | 200 km/h | 200 km/h |
WLTP-Stromverbrauch | 17,7-18,1 kWh | 18,6-21,0 kWh |
Akku brutto/netto | 100 / 94 kWh (NMC) | 100 / 94 kWh (NMC) |
WLTP-Reichweite | 610 km | 580 km |
Max. Ladeleistung AC/DC | 22 / 200 kW | 22 / 200 kW |
DC-Ladedauer (10-80%) | 30 min | 30 min |
DC-Ladegeschw. (10-80%) | 2,2 kWh/min | 2,2 kWh/min |
Preis | 61.900 Euro | 71.400 Euro |
Mit Wechselstrom aufgeladen wird serienmäßig mit 11 kW, optional gibt es den 22-kW-Lader aus dem “Plus-Paket”. Am Schnelllader sind bis zu 200 kW möglich, damit soll man den Akku in 30 min von 10 auf 80% aufladen können. Daraus errechnet sich eine Ladegeschwindigkeit von 94 kWh*(0,8-0,1)/30 min = 2,2 kWh/min – für ein 400-Volt-System ein sehr hoher Wert. Übrigens: Die neue Version des Zeekr 001 hat eine Spannungslage von 800 Volt. Damit soll sich der Akku in weniger als 12 Minuten aufladen lassen.
Interieur
Innen gibt es ein 10,2-Zoll-Instrumentendisplay und einen 15,4-Zoll-Bildschirm im Querformat, mit dem Plus-Paket kommt ein Head-up-Display hinzu. Im Auto hat man laut Vicky eher das Gefühl, in einem Coupé zu sitzen als in einem SUV. Nervig sei, dass man die Lüftung über den Touchscreen einstellen müsse. Die Materialien werden von beiden Testern gelobt. Schöne Stoffe oder optional Nappaleder sorgen für ein skandinavisches Ambiente. Kevin findet, der Innenraum sei sogar besser verarbeitet als beim teureren Polestar 3.
Polestar 4 (2024): Das Cockpit
Auf dem Touchscreen läuft Google-Software; die ziemlich großen Symbole sind mit dem Finger leicht zu treffen. Auch das integrierte Google Maps funktioniert gut. Kevin findet das System besser als das im Polestar 3, der anders als das getestete Modell einen Bildschirm im Hochformat besitzt. Ihm gefällt das einheitlich orange-weiße Erscheinungsbild der Grafiken.
Auf diesem Bild ist zu erahnen, wie dunkel es im Fond ist
Beide Tester sind beeindruckt vom Platzangebot im Fond. Personen bis etwa 1,80 m sollen hinten bequem sitzen können. Das kommt davon, dass die Dachlinie bis zu einem Knick kurz vor der fehlenden Heckscheibe ziemlich gerade bleibt, schreibt Vicky. Im Fond sei es sei aber auch ein bisschen zu dunkel, wie Vicky und Kevin finden. Das serienmäßige Glasdach mindert diesen Eindruck, aber es bleibe ein Gefühl der Enge. Auch Kevin beschreibt den Fond als “klaustrophobisch”.
Vor allem aber ist die Rundumsicht bescheiden. Das im Innen-“Spiegel” gezeigte Bild der Rückfahrkamera ist zwar gut, aber nicht so klar und scharf wie ein normaler Spiegel, und die Sicht beim Schulterblick sei auch nicht gerade brillant, so Vicky. Kevin störte die fehlende Heckscheibe ebenfalls sehr, vor allem fehle die Entfernungsinformation, was das Fahren in einer quirligen Großstadt nicht einfacher mache. Ersatzweise drehte er den Kopf immer wieder von links nach rechts, um in den Außenspiegeln nach Fußgängern, Radfahrern und anderen Autos Ausschau zu halten.
Der Kofferraum bietet beeindruckende 526 bis 1.536 Liter; dazu kommt noch ein 15 Liter großer Frunk für die Ladekabel. Damit sei der Ladevolumen groß, schreibt Kevin, aber nicht so groß wie beim Model Y, das laut Benutzerhandbuch bei fünfsitziger Konfiguration noch 814 Liter Kofferraum bietet, bei umgeklappten Rücksitzen sogar 2.041 Liter.
Die Kofferraum-Öffnung hat eine Schräge
Fahreindrücke
Die Single-Motor-Version mit 200 kW wirke trotz der mittelmäßigen Sprintzeit von 7,1 Sekunden mehr als spritzig und das Pedalgefühl sei gut, lobt Vicky. Die Rekuperation wird per Touchscreen dreistufig eingestellt: aus, niedrig oder Standard. Aus bedeutet Segeln, niedrig eine ziemlich milde Rekuperation und Standard entspricht dem One-Pedal-Driving. Etwas mehr Rekuperationsmodi im mittleren Bereich und Wippen am Lenkrad zum Einstellen wären schön, meint Vicky.
Die Lenkung sei direkt und die Reaktion auf Lenkbewegungen vorhersehbar, so die Test-Redakteurin. Das Wanken bleibe gering. Auf den 21-Zöllern bleibt der Polestar 4 Single Motor bei höherem Tempo stabil, aber in der Stadt ist ein merkliches Zittern und Klopfen zu spüren. Insgesamt fahre sich der Polestar 4 nicht ganz so ansprechend wie der BMW i4 oder der Porsche Macan.
Der Allradler mit Performance-Paket (adaptive Dämpfer und Sportfahrwerk) verkürzt die Sprintzeit auf 3,8 Sekunden. Damit wirke die Beschleunigung ziemlich brutal, was einen zum sportlichen Fahren animiere. Der Allradler mit dem Sportfahrwerk und 22-Zöllern wirke straffer und komme vom Fahrgefühl dem BMW und dem Porsche nahe. Insgesamt gefällt Vicky jedoch die entspanntere Single-Motor-Version besser. Hier kommt auch das bessere Preis-Leistungs-Verhältnis dazu.
Kevin fand den Allradler agil, er lobt die die vehemente Beschleunigung sowie die geringe Wankneigung in der Kurve. Mit den geregelten Stoßdämpfern würden das Auto aber nicht ganz so komfortabel rollen wie die Zeekr-Fahrzeuge mit Luftfederung, die er gefahren hat. Er kritisiert jedoch das “fairly vague brake pedal”, also das etwas vage Bremsgefühl.
Preise und Fazit
Mit knapp 62.000 Euro für den Hecktriebler und über 71.000 Euro für den Allradler ist der Polestar 4 nicht gerade günstig, findet Vicky. Die Serienausstattung sei aber sehr großzügig. Sie umfasst unter anderem Wärmepumpe, schlüssellosen Zugang, elektrisch einstellbare und beheizte Vordersitze, ein 360-Grad-Rundumsichtsystem, Abstandstempomat, Dreizonen-Klimaautomatik.
Alles in allem ist der Polestar 4 stimmiger, als Vicky befürchtet hatte: Er fahre sich gut, sei geräumig, habe viel Reichweite und sehe interessant aus. Das “rebellische” Design sei wohl auch der Hauptgrund, sich einen zu kaufen, denn andere Modelle würden besser fahren und die Sicht nach hinten sei nicht versperrt.
Kevin schreibt, die fehlende Heckscheibe könnte für viele ein Ausschlusskriterium sein. Der schlechten Sicht nach hinten stünde kein wesentlicher Vorteil gegenüber. So macht er sich Sorgen, ob dieses für Polestar so wichtige Modell die Erwartungen bei den Verkaufszahlen erfüllen wird, zumal in Asien, wo er gegen die technisch besseren Modelle Zeekr 001 und Zeekr 007 antritt.
Quelle: Autocar, InsideEVs.com, Polestar (Daten)