Es hat zwar ein bisschen länger gedauert, doch bald kommt endlich Volvos elektrisches Flaggschiff EX90. Die erste Mitfahrt beweist, dass sich das Warten gelohnt hat.
Kenneth Ekström ist ein Mann, denn so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Schließlich ist er nicht nur Schwede und deshalb von Natur aus gelassen, sondern auch Entwicklungsfahrer bei Volvo. Auf dem Testgelände in Hällered 90 Minuten außerhalb Göteborgs kennt er deshalb jede Kurve und jeden Kiesel dahinter. Und in seinem aktuellen Dienstwagen ist ihm ohnehin jede Aufregung fremd.Schließlich sitzt er jetzt schon mehr als ein Jahr am Steuer des EX90 und während Corona und die Chipkrise seine Kollegen durchaus ein bisschen gestresst und am Ende mindestens ein halbes Jahr gekostet haben, ist es sein Job als Dauertester, dass bei den Kunden von der ganzen Aufregung nichts ankommt. Denn als künftiges Flaggschiff der Schweden soll der EX90 gelassen und gediegen sein, sagt Ekström oder “wysigt”, wie die Schweden sagen, wenn sie gemütlich meinen.
Bild: VolvoUnd vor allem natürlich ruhig. “In keinem anderen Volvo war es bislang so leise”, flüstert Ekström in die Stille, die genährt wird von den E-Motoren, vom bocksteifen Schwedenstahl und zentnerweise Dämmung im Blech und im Glas, die Wind- und Reifengeräusche schlucken.Wie in Watte gepackt und auf Wolken gebettet fährt Ekström deshalb über den Kurs und selbst auf der Schlechtwegstrecke oder dem kleinen Schotterhügel für die Offroad-Simulation lassen sich weder das Fahrzeug und erst recht nicht der Fahrer aus der Ruhe bringen.
Volvo EX90: Der kann auch anders
Und bisweilen braucht es die dann eben doch. Denn natürlich kann der EX90 auch anders und bevor Ekström gar vollends abdriftet in die Langweiligkeit der Langstreckenerprobung, wechselt er in die verschärften Fahrprofile und kitzelt alles aus seinem “Twin Motor Performance”-Modell heraus.Dann zucken plötzlich die Mundwinkel so weit nach oben, dass man dem Ingenieur doch so etwas wie ein Herz zutraut, das auch mal einen schnelleren Takt schlägt und die beiden E-Maschinen mit zusammen 517 PS und 910 Nm treiben ihr wildes Spiel mit der Schwerkraft. Natürlich quietschen hier keine Reifen und kein Sound stört die Stille. Aber es riecht plötzlich ein bisschen nach Schweiß und nach Adrenalin, wenn der EX90 in 4,9 Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100 stürmt und erst bei 180 Sachen ziemlich rüde wieder eingebremst wird.
Bild: VolvoWer mit weniger zufrieden ist, dem verkaufen die Schweden auch eine Twin-Motor-408 PS und 770 Nm eine mit Heckantrieb, 279 PS und 490 Nm, die dann nur auf 160 Sachen kommt.
Volvo EX90: 600 Kilometer Normreichweite
Bild: VolvoJa, die Materialauswahl ist genauso nachhaltig und je nach Trimlevel auch genauso nüchtern wie beim EX30. Und Leder haben die politisch korrekten Schweden tatsächlich gestrichen. Aber zumindest sind die Schalter für die Fensterheber wieder in den Türen, wo sie hingehören, und hinter dem Lenkrad gibt es diesmal ein kleines Display, auf dem zumindest Tempo & Co angezeigt werden. Selbst wenn ansonsten die Musik auf dem riesigen Tablet daneben spielt, das mit einer Engine von Epic Games die vielleicht besten Grafiken diesseits der Playstation zeigt.Zwischendurch wechsele ich auch mal nach hinten – und steige nach zwei, drei Runden gleich wieder um. Denn gemessen an gewöhnlichen SUV dieser Klasse mag der Patz in der zweiten Reihe ganz ok sein.
Bild: VolvoAber für ein 5,04 Meter langes Elektroauto auf einer Skateboard-Plattform mit fast genau drei Metern Radstand sind die Platzverhältnisse allenfalls durchschnittlich, und das auch nur, wenn die zwei Handbreit verschiebbaren Rücksitze ganz hinten eingerastet sind.Aber dafür gibt es schließlich noch Platz für eine dritte Reihe, in der zumindest der Nachwuchs ganz ordentlich mitfahren sollte. Und selbst wenn der EX90 sieben auf einen Streich chauffiert, bleibt noch Raum für 384 Liter Gepäck – die 46 Liter im Frunk unter dem Bug nicht mitgerechnet. Wer die dritte Reihe flach macht, kann gute 1000 Liter verstauen und als Zweisitzer wird der schwedische Summer zum Lieferwagen mit fast zwei Kubikmetern Ladevolumen.Zwar macht Volvo mit dem EX90 einen großen Schritt in die Zukunft. Doch wissen die Schweden auch, was für ein Wagnis das ist. Schließlich steht ihr großes SUV traditionell unter den Top3 und in vielen Märkten sogar ganz an der Spitze ihrer Verkäufe. Deshalb gehen sie nicht das volle Risiko, gönnen den beiden Dickschiffen eine friedliche Koexistenz und polieren den alten sogar noch einmal auf: Während sie in ihrem neuen Werk im amerikanischen South Carolina so langsam die Produktion des EX90 hochfahren, arbeiten sie in Göteborg deshalb am Facelift für den XC90 und hier auf dem Testgelände in Hällered kommt es bisweilen zum Generationentreffen. Kein Wunder also, dass unter mancher Tarnfolie deshalb noch ein Auspuff heraus schaut.
Fazit zum Volvo EX90:
Groß, gediegen, nordisch nüchtern und dabei wunderbar “mysigt” – so wird der EX90 zum Traumwagen für solvente Familien mit ausgeprägtem Klimagewissen und zur charmanten Alternative im süddeutschen Einerlei. Um so bemerkenswerter, dass Volvo dem Verbrenner die Treue hält und den XC90 nicht nur weiterbaut, sondern ebenfalls noch mal auf Vordermann bringt.