Der Mythos SL wird 70 Jahre alt. AUTO BILD KLASSIK fuhr den Rennsport-Flügeltürer, mit dem 1952 alles anfing!
- Der Mercedes 300 SL ist ein Oldtimer von unschätzbarem Wert
- Bequemer als der Serien-Flügeltürer
- Alles begann am Küchentisch
- Ringen um jedes Gramm
- 1952: Renn-Premiere mit Rudolf Caracciola am Steuer
- Sechszylinder mit zivilisierten Manieren
- Tückische Hinterachse
Wer hier wem die Schau stiehlt, ist an diesem klirrend kalten Morgen auf dem Flugplatz im oberschwäbischen Mengen schwer zu beurteilen: Ist es die hochglanzpolierte Ryan STA aus dem Hangar der “Antique Aeroflyers”, die als Bugatti der Lüfte gilt? Oder das Auto, dessen geöffnete Türen wie zwei Tragflächen in der Luft schweben?
Die Frage beantwortet der Pilot eines Geschäftsfliegers, der mit dröhnenden Turbinen auf dem Taxiway vorbeirollt. Als er die Szenerie passiert, bremst er seine zweistrahlige Phenom 300 kurz ab, deutet auf den silbernen Sportwagen mit dem großen blauen Stern auf der Haube, reckt den Daumen hoch und düst dann weiter Richtung Rollbahn.
Der Mercedes 300 SL ist ein Oldtimer von unschätzbarem Wert
Auch wir machen uns startklar. Erst mal heißt es allerdings tief Luft holen: Der Mercedes, der hier vor uns steht, ist ein Oldtimer von unschätzbarem Wert, mehr entrücktes Kunstwerk als nahbares Auto, Weltkulturerbe der Sportwagengeschichte. Es ist der derzeit älteste noch fahrende 300 SL, das Urmodell, der sogenannte “Rennsportwagen”, mit dem vor 70 Jahren alles anfing, Werkscode W 194.
Bequemer als der Serien-Flügeltürer
Ehrfurcht macht aber nicht schlau, und wir wollen wissen, wie er fährt. Also los! Erste Überraschung: Reinklettern ist einfacher als bei einem – man verzeihe den Begriff – “gewöhnlichen” Flügeltürer, dem ab 1954 gebauten Serienmodell (W 198). Dort lässt sich das Lenkrad, um den Durchstieg zu vergrößern, mit einem Scharnier lediglich kippen; hier geht das Volant mit dem vom Handschweiß berühmter Motorsporthelden gegerbten Holzkranz komplett ab. Außerdem sind statt praller Lederpolster flache Rennschalen mit hohen Seitenwangen eingebaut. Auch sie entspannen die Platzverhältnisse; nur die Bein-Akrobatik beim Einfädeln über die überbreiten Schweller bleibt dieselbe.
Wir können heute von Glück sagen: Zu Beginn besaß der W 194 nur Einstiegsluken, die kaum größer waren als die Seitenfenster. Später wurden die Ausschnitte vergrößert; ein Zugeständnis von Mercedes-Rennleiter Alfred Neubauer an den Automobile Club de l’Ouest, der für die 24 Stunden von Le Mans halbwegs vollwertige Türen forderte. (Der Zwei-Zentner-Redakteur sagt 70 Jahre später noch mal danke!)
Alles begann am Küchentisch
So waren sie damals, die Zeiten: knapp das Geld und die Ressourcen, der Einfallsreichtum dafür umso größer. Teile des Untertürkheimer Werks lagen 1951 noch in Trümmern, doch die Rückkehr in den imagefördernden Motorsport war bereits wieder beschlossene Sache. Da als Antrieb jedoch nur der Sechszylinder aus dem gerade vorgestellten Topmodell 300 zur Verfügung stand, ein bleischwerer Graugussklotz mit zähen 115 PS, dessen Vorläufer im Krieg in Feuerwehrautos gesteckt hatte, mussten die Motoren-Männer tief in die Tuning-Trickkiste greifen und die Konstrukteure mit radikalem Leichtbau gegenhalten.
Ringen um jedes Gramm
Dass um jedes Gramm gerungen wurde, sieht man heute noch. Dünnes Alublech überspannt Uhlenhauts ingeniöses Rohrgeflecht; perforierte Trägerprofile unter dem Kofferraumdeckel und durchbohrte Hosenrohrbefestigungen auf der Motor-Auslassseite sind weitere Diät-Maßnahmen. Am Ende brachten Karosserie (128 Kilo) und Rahmen (61 Kilo) zusammen sogar zwölf Kilo weniger auf die Waage als der Antrieb. Innen geriet der Rennsportwagen dennoch überraschend wohnlich. Karobezüge auf den Sitzschalen zaubern sogar einen Hauch wirtschaftswunderlicher Gemütlichkeit ins Cockpit; auch die filigranen Chromringe um die Instrumente bringen ein paar ästhetische Glanzpunkte in die ansonsten funktionale Strenge. “Ein Fahrer soll sich an seinem Arbeitsplatz wohlfühlen”, lautete die Maxime von SL-Vater Uhlenhaut. Ein Versprechen, das der W 194 auch mit leidlicher Klimatisierung einlöst: Neben zwei Plexiglasklappen in den Seitenscheiben und einer Ausströmöffnung im Dach sorgen zwei durchsatzstarke Düsen im Fußraum und vor der Windschutzscheibe für Luftzirkulation und verhindern, dass die Insassen von der Motor-Abwärme gegrillt werden.
1952: Renn-Premiere mit Rudolf Caracciola am Steuer
Seinen ersten Renneinsatz erlebt Nummer 5 im Mai 1952 beim italienischen Langstreckenklassiker Mille Miglia. Am Steuer: Rudolf Caracciola, Mercedes’ Fahrer-Ass aus den 1920er- und 30er-Jahren, Sieger des Nürburgring-Eröffnungsrennens, dreifacher Europameister auf den legendären Silberpfeilen und der Mann, der am 28. Januar 1938 mit 432,7 km/h einen Temporekord aufstellte, kurz bevor Auto-Union-Rivale Bernd Rosemeyer beim Versuch starb, ihn zu überbieten. 1952 ist “Caratsch” für heutige Rennfahrer-Maßstäbe mit 51 Jahren schon ein alter Mann, zudem körperlich gehandicapt: Seit einem Unfall ist sein rechtes Bein verkürzt, weswegen er mit seinem Bremsfuß nicht mehr die volle Kraft aufbringen kann. Mercedes baut daher extra für ihn einen Hydrovac-Bremskraftverstärker ein. Sonderlich oft gebremst haben kann Caracciola allerdings nicht, denn wer die 1500-Kilometer-Hatz von Brescia nach Rom und zurück in 12:48:29 Stunden schaffen will, muss überwiegend auf dem Gas stehen. Am Ende reicht es für Platz vier. Rang zwei holen in einem baugleichen SL die Teamkollegen Karl Kling und Hans Kleng nach Lokalmatador Giovanni Bracco auf einem gut 60 PS stärkeren Ferrari 250 S.
Zwei Wochen später in Bern sind es wieder die Bremsen, die “Caratsch” zu schaffen machen. Diesmal blockiert die Trommel am rechten Vorderrad; der Mercedes-Pilot kommt von der Strecke ab und kracht in Runde 13 vor der sogenannten Forsthauskurve frontal in eine 20 Meter hohe Esche. Ergebnis: Auto demoliert, Caracciola im Krankenhaus. Fleischwunden und Oberschenkelbruch – für ihn war’s das mit der Rennfahrerkarriere. Nicht jedoch für Nummer 5: Der SL wird wieder aufgebaut, verpasst dadurch zwar den Le-Mans-Einsatz im Juni, wird aber am 6. Oktober an Bord des Dampfers “Anita” von Hamburg nach Mexiko verschifft. Dort startet er mit Hermann Lang am Steuer am 19. November bei der Carrera Panamericana von Tuxtla nach Ciudad Juárez.
Sechszylinder mit zivilisierten Manieren
Inzwischen sind wir so weit. Der schräg im Bug hängende Sechszylinder, 175 PS stark, hat sich die Morgenkälte von den Kolben gehustet und wartet mit sprotzelndem Leerlauf auf die Startfreigabe vom Tower. In der Soundwertung könnte ihm allenfalls die gelbe Texan T-6 mit ihrem Neunzylinder-Sternmotor das Wasser reichen, die vor dem “Aeroflyers”-Hangar parkt.
Für einen Rennwagen, das wird schon nach den ersten Metern deutlich, benimmt sich der W 194 erstaunlich zivilisiert. Bis auf den unterschwellig-aggressiven Bariton, der die Trommelfelle und den Rücken massiert, ist ihm jegliche Roheit fremd. Die Bedienkräfte für Kupplung und Bremse sind kaum höher als bei einem modernen Alltagsauto; dank direkter, spielfreier Lenkung ist der Ur-SL zudem ein Ausbund an Wendigkeit. Lediglich die Schaltung wirkt mit ihrem gekröpften Hebel, der sich unterm Armaturenbrett hervorschlängelt, und den langen Wegen etwas landmaschinenhaft. 240 km/h Spitze sollen möglich sein, ein Fabelwert vor 70 Jahren!
Schon aus dem Drehzahlkeller zieht die Maschine herzhaft durch. Wirklich feurigen Vortrieb liefert sie aber erst oberhalb von 4000 Touren. Im Vergleich zum Serien-300-SL fällt vor allem die giftigere Gasannahme auf. Wenn die drei Solex-Vergaser vom Typ 40 PBIC die Brennräume fluten, geht die Post ab. Im Vergleich dazu wirkt das Ansprechverhalten des Direkteinspritzers aus dem Serienauto geradezu mild.
Tückische Hinterachse
Die Seitenneigung ist gering, die Abrollgüte dennoch manierlich. Das Fahrwerk stammt aus der 300er-Limousine, nur die Spurweite ist enger. Im Rennbetrieb kam es dadurch zu frühzeitigem Traktionsverlust und abruptem Übersteuern, was Mercedes durch den Einbau eines Sperrdifferenzials zu unterbinden suchte. Die Tücken der Hinterachse loten wir mit dem wertvollen Museumsstück lieber nicht aus. Der SL pfeift allerdings so unbeirrt um die engen Taxiway-Kehren, dass wir – zumindest auf trockener Piste –schon ziemlich heftig Caracciola spielen müssten, um ihn ans Limit zu bringen.
Zum Schluss entert Günther von den “Aeroflyers” für ein paar schnelle Platzrunden den Beifahrersitz. Ein paarmal schießen wir mit ihm die Landebahn rauf und herunter, der SL brüllt dabei wie vor 70 Jahren auf der Startrampe in Brescia. Nach der Testfahrt leuchten die Augen unseres Copiloten. Fast meint man, er habe sich einen kurzen Moment lang gefragt, ob Fliegen wirklich schöner ist.