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Wie umgehen mit dem Vorschaden?

Vom 24. bis zum 26. Januar tagte der Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar. Im größten Arbeitskreis (VI) diskutieren Juristen, Sachverständige und Versicherungsvertreter über die Vorschadenproblematik bei der Regulierung von Verkehrsunfällen.

wie umgehen mit dem vorschaden?

Arbeitskreis VI des 62. Deutschen Verkehrsgerichtstag (v.l.): Oliver Zur, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verkehrsrecht, Freiburg, Vera von Pentz, Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe, Dr. Michael Nugel, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, Essen, Prof. Dr. Dirk Looschelders, Universität Düsseldorf Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Düsseldorf und Dr. Ingo Holtkötter, ö.b.u.v. Sachverständiger Verkehrsunfallrekonstruktion und Fahrzeugelektronik, Münster. (Bild: Wenz | VCG)

Traditionell begrüßte Dekra viele Teilnehmer des Verkehrsgerichtstag zum Dekra-Abend in Goslar. Guido Kutschera, Vorsitzender der Geschäftsführung Dekra Automobil GmbH, berichtete seinen Gästen von den Dekra-Erfolgen des vergangenen Jahres. Demnach habe Dekra insgesamt im abgelaufenen Geschäftsjahr erstmals über vier Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet. Der Automobilbereich habe dazu einen erheblichen Anteil beigetragen – was zum Teil auf Naturschadenereignisse im vergangenen Jahr zurückzuführen sei. So habe seine Organisation zusätzlich zum gut laufenden Tagesgeschäft über 100.000 Schadengutachten für Hagelschäden erstellt, berichtete Kutschera stolz.

Heiß diskutiert wurden die Themenbereiche in den einzelnen Arbeitskreisen des Deutschen Verkehrsgerichtstag in Goslar. Wie immer erstellten die Arbeitskreise des Deutschen Verkehrsgerichtstag klare Empfehlungen für den Gesetzgeber sowie für die beteiligten Personenkreise.

Insbesondere der Arbeitskreis VI zur Vorschadenproblematik löste kontroverse Diskussion aus. Grundlage der Diskussion ist der Umstand, dass nahezu jedes gebrauchte Fahrzeug kleinere oder auch größere Vorschäden hat. Diese können durch den normalen Gebrauch des Fahrzeugs oder durch einen Unfall entstanden sein. Sobald Versicherungen Kenntnis von Vorschäden haben, versuchen sie dies für ihre Schadenregulierung zu nutzen – teilweise geht es so weit, dass sie eine Unfallregulierung komplett ablehnen. Ihre Begründung hierfür: „Der Nachweis der vollständigen und fachgerechten Reparatur des Vorschadens wurde nicht erbracht.“

Prof. Dr. Dirk Looschelders erklärte in seinem Kurzreverat: Die Abwicklung von Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen wird nicht selten dadurch erschwert, dass das Fahrzeug des Geschädigten Vorschäden aufweist, die auf einem früheren Unfall beruhen. Dass Kosten für die Reparatur von Vorschäden bei der Regulierung eines aktuellen Unfalls nicht ersatzfähig sind, ist anerkannt. Die Abgrenzung von Neuschäden und Vorschäden kann aber erhebliche Probleme bereiten, wenn die (angeblichen) Neuschäden denselben Fahrzeugbereich wie die Vorschäden betreffen (sog. deckungsgleiche Vorschäden).

Oliver Zur, Fachanwalt für Verkehrsrecht, ergänzte in seinem Referat: „Reparierte wie unreparierte Vorschäden stellen den redlichen Geschädigten in der Regulierung seiner Ansprüche vor erhebliche Herausforderungen. Um dem schadensrechtlichen Bereicherungsverbot gerecht zu werden, wurden bis zum Urteil des BGH vom 15.10.2019 – VI ZR 377/18 in der Rechtsprechung überspannte Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des redlichen Geschädigten hinsichtlich ihm unbekannter Vorschäden gestellt.“

Der BGH habe nunmehr klargestellt, dass im Rahmen des § 287 ZPO der Vorschaden gegebenenfalls zu schätzen sei. Der Geschädigte könne nur das darlegen, was er weiß. Doch noch immer habe der redliche Geschädigte mit prozessualen Hürden zu kämpfen. Der Vorschaden sei der beklagten Versicherung in Art und Umfang oft bekannt, da ihr über die HIS-Datei Zugang zu alten Gutachten gewährt werde.

Wenn der Versicherer des Schädigers nach einem Verkehrsunfall erklärt, beruft er sich hierbei regelmäßig auf die sogenannte HIS-Datei, in der fiktiv abgerechnete Unfallschäden erfasst sind. Sachverständige und Rechtsanwälte erheben regelmäßig den Anspruch, genau wie die Versicherer auf diese Daten zugreifen zu können. Dies wird allerdings unter Berufung auf den Datenschutz abgelehnt. Für den Umgang mit der HIS-Datei empfahl die Arbeitskreisvorsitzende Vera von Pentz, Richterin am BGH, einen eigenen Arbeitskreis zu installieren.

Dr. Ingo Holtkötter, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger, erklärte: „Bei der Beurteilung unfallrelevanter Schäden kommt der Aufgabe des technischen Sachverständigen eine hohe Bedeutung zu. Die Abgrenzung von reparierten oder unreparierten Vorschäden zum Schadensbild des aktuellen Ereignisses stellt in vielen Fällen eine besondere Herausforderung dar.“ In jedem Fall sei von einem Gutachten eine hochwertige fotografische Dokumentation und die Nachvollziehbarkeit der getroffenen Feststellungen und gegebenenfalls vorgenommenen Schätzungen zu fordern. Die Diskussion im Arbeitskreis drehte sich daraufhin auch einige Zeit um die Qualifizierung des Sachverständigen. Dabei wurde insbesondere die Möglichkeit erörtert, ob ein Vorschaden ohne die Mithilfe des Fahrzeugeigentümers überhaupt festgestellt werden könne, wenn bei der Schadensbehebung keine Fehler gemacht wurden. Insbesondere der Punkt Qualität des Gutachtens wurde bei der Empfehlung des Arbeitskreises (siehe weiter unten) heftig diskutiert.

Die Empfehlungen der Arbeitskreise des 62. Deutschen Verkehrsgerichtstags in Goslar:

Arbeitskreis I – Einziehung von Täterfahrzeugen bei strafbaren Trunkenheitsfahrten?

Der Arbeitskreis stellt fest, dass bei schweren Unfällen Alkohol- und/ oder Drogeneinfluss häufige Ursachen sind. Unter anderem empfiehlt der Arbeitskreis: Es soll eine Einziehungsmöglichkeit für genutzte Fahrzeuge bei Trunkenheitsfahrten nach §§ 315 c I Nr. 1a, 316 StGB eingeführt werden. Die Einziehung soll nicht nur auf Vorsatztaten beschränkt sein.

Arbeitskreis II – Haushaltsführungsschaden – wenn das Unfallopfer nicht mehr staubsaugen kann

Der Arbeitskreis stellt beispielsweise fest, dass die Anforderungen an die Substanziierung eines Haushaltsführungsschadens bei den Gerichten bundesweit sehr unterschiedlich gehandhabt werden. Eine Vereinheitlichung erscheint wünschenswert.

Arbeitskreis III – Fahreignungsgutachten und ihre Überprüfung durch die Fahrerlaubnisbehörde

Der Arbeitskreis ist sich einig, dass sich das Prinzip der Fahreignungsüberprüfung grundsätzlich bewährt. Fahreignungsgutachten sind einer inhaltlichen Überprüfung durch die Fahrerlaubnisbehörden zu unterziehen. Die Gutachten können gegenüber der begutachtenden Stelle nur durch die betroffene Person beanstandet werden. Hierfür müssen Länder und Kommunen eine den tatsächlichen Anforderungen gerecht werdende personelle Ausstattung der Fahrerlaubnisbehörden sicherstellen.

Arbeitskreis IV – Cleverness oder strafbares Verhalten? Behördentäuschung und Punktehandel

Verschleierungshandlungen im Zuge des sogenannten „Punktehandels“ beziehungsweise der „Punkteübernahme“ schwächen die Wirkung bußgeldrechtlicher Sanktionen. Sie untergraben auch die Funktion des Fahreignungsregisters, wiederholt mit gravierenden Verkehrsverfehlungen aufgetretene Kraftfahrer gegebenenfalls von der Teilnahme am Straßenverkehr ausschließen zu können. Ferner sind Verschleierungshandlungen geeignet, die staatliche Rechtspflege zu beeinträchtigen. Dies gilt insbesondere für im Internet aggressiv beworbene „Geschäftsmodelle“ von gewerblich tätige „Punktehändlern“. Der Arbeitskreis empfiehlt unter anderem, solchen Verschleierungshandlungen durch die Schaffung effektiver Sanktionsvorschriften entgegenzuwirken, die auch die Verhängung von Fahrverboten gegen die tatsächlichen Fahrzeugführer und die Eintragung sowie Bewertung im Fahreignungsregister ermöglichen. Diesbezügliche Internetangebote sollen unterbunden werden.

Arbeitskreis V – Weniger Strafe bei Unfallflucht?

Der Arbeitskreis ist einheitlich der Auffassung, dass die Vorschrift des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) reformiert werden sollte. Angesichts der Komplexität der Vorschrift sind Verkehrsteilnehmer und Geschädigte vielfach überfordert. Der Arbeitskreis empfiehlt, die Vorschrift im Hinblick auf die Rechte und Pflichten verständlicher und praxistauglicher zu formulieren.

Arbeitskreis VI – Vorschaden und Schadensgutachten

Der Bundesgerichtshof hat in seiner neueren Rechtsprechung klargestellt, welche Anforderungen an den Vortrag des Geschädigten zu Vorschäden gestellt werden dürfen. Dennoch werden die Anforderungen in der Praxis oftmals weiterhin überspannt; darüber hinaus wird zu selten von der Möglichkeit der Schätzung eines Mindestschadens Gebrauch gemacht. Erhebliche Probleme bestehen auch im vorgerichtlichen Bereich der Schadensregulierung. Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Arbeitskreis: Dass das Gutachten den Schaden und den Reparaturweg umfassend und nachvollziehbar dokumentiert. Hierzu gehört auch eine qualifizierte Aussage zum Vorhandensein von Vorschäden und deren etwaiger Reparatur. Diese Aussage muss auf Untersuchungen am Fahrzeug durch persönliche Inaugenscheinnahme des Sachverständigen und auf Angaben des Geschädigten beruhen.

Mehr zu den einzelnen Arbeitskreisen und deren Empfehlungen finden Sie hier!

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