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Verliert Volkswagen beim autonomen Fahren den Anschluss?

Ständige Probleme bei der Software-Tochter Cariad und Gerüchte um ein Aus des Mega-Projekts Trinity bremsen Volkswagen immer wieder aus. Der Fokus liegt aktuell auf anderen Themen. Dadurch könnte der Abstand zur Konkurrenz immer größer werden.

verliert volkswagen beim autonomen fahren den anschluss?

Volkswagen nimmt beim autonomen Fahren momentan eher Tempo raus. Dabei ruhen große Hoffnungen auf der Software-Tochter Cariad. (Bild: Volkswagen)

Seitdem Oliver Blume im September 2022 die Führung bei Volkswagen übernommen hat, weht ein anderer Wind in Wolfsburg. Anders als sein Vorgänger Herbert Diess setzt der gebürtige Braunschweiger auf Pragmatismus. Trotz seines Nachnamens sind blumige Zukunftsfantasien von einer baldigen Führungsrolle beim autonomen Fahren nicht Teil der Agenda des neuen CEOs – im Gegenteil: Das selbsternannte Leuchtturm-Projekt Trinity, welches Volkswagen beim autonomen Fahren ganz weit nach vorne bringen sollte, stellte Blume nur wenige Wochen nach Amtsantritt in Frage. Der ursprüngliche Produktionsstart für das neue Werk wurde von 2026 auf unbestimmte Zeit nach hinten verschoben. Aktuell deutet vieles darauf, dass das Werk nie gebaut wird. Fast zeitgleich beendete Volkswagen die Zusammenarbeit mit Argo AI. Das sorgt dafür, dass sowohl die Hoffnungen aber auch der Druck auf Cariad immens zunehmen. Immerhin gibt es auch Unterstützung für die Software-Tochter: In China soll Horizon Robotics unterstützen, im Rest der Welt ist Bosch der wichtigste Partner für Cariad in Bezug auf die Entwicklung des automatisierten Fahrens für individuelle Mobilität.

Im Hier und Jetzt kann Volkswagen mit dem Travel Assist aufwarten. Das Assistenzsystem hilft beim Beschleunigen sowie dem Halten der Fahrspur und des Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeug. Technisch beruht der Travel Assist auf der Road-Experience-Management-Technologie (REM). Diese soll automatisch hochauflösende Karten für die crowdbasierte Cloud-Datenbank Mobileye Roadbook generieren. Im Frühjahr 2022 erfuhr das System weitere Verbesserungen mit der neuen Software-Generation 3.0 für die ID-Modellfamilie: Die Fahrzeuge halten durch Schwarmdaten künftig besser die Spur sowie Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug und die eingestellte Höchstgeschwindigkeit. Mit zwei Radaren im Heck und per Ultraschall soll die Funktion auch den umliegenden Verkehr im Blick behalten sowie beim Spurwechsel auf der Autobahn unterstützen.

Bosch und Cariad arbeiten an Software-Plattform

Gemeinsam mit Bosch soll Volkswagens Softwaretochter Cariad allen Fahrzeugklassen der Konzernmarken eine einheitliche Software-Plattform für das teil- und hochautomatisierte Fahren bereitstellen. Zunächst werden dabei Hands-free-Systeme auf Level 2 sowie eine Lösung auf Level 3 entwickelt, welche die komplette Fahraufgabe auf der Autobahn übernimmt. Erste Funktionen sollen bereits dieses Jahr implementiert werden. Durch die Unklarheiten rund um das Trinity-Projekt dürften sich die Zeitpläne in Richtung Level 4 deutlich nach hinten verschieben. Ursprünglich wollte man mit den Trinity das Fahren auf ebenjener Automatisierungsstufe in Serie bringen.

Im Vordergrund der Softwareentwicklung steht der datengetriebene Ansatz. Informationen der 360-Grad-Umfelderfassung werden unter anderem mit Hilfe künstlicher Intelligenz analysiert und verarbeitet. „Für die Entwicklung des automatisierten Fahrens ist die beste Schule der echte Straßenverkehr. Wir gewinnen mithilfe einer der größten vernetzten Fahrzeugflotten weltweit eine riesige Datenbasis, um automatisierte Fahrsysteme auf eine neue Stufe zu bringen“, erläutert Mathias Pillin, Vorsitzender des Bereichsvorstandes von Bosch Cross-Domain Computing Solutions.

Als weiteren Partner gewann Volkswagen im Mai 2022 den Tech-Riesen Qualcomm, der in Zukunft eng mit Cariad zusammenarbeiten soll. Bei autonomen Fahrfunktionen bis Level 4 möchte man ab Mitte der Dekade die Snapdragon Ride-Plattform des Unternehmens zum Einsatz bringen. Durch die enge Zusammenarbeit könne Cariad optimal definieren, welche Systeme im Fahrzeug zum Einsatz kommen. Dies ermögliche ein optimales Zusammenspiel zwischen der Plattform im Fahrzeug und der mit Bosch entwickelten Software.

Holt VWN beim autonomen Fahren die Kohlen aus dem Feuer?

Auf die Straße bringt der Konzern das autonome Fahren vor allem in Hamburg. Dort erprobt Volkswagen seit einiger Zeit autonome E-Golf auf einer neun Kilometer langen Teststrecke im realen Straßenverkehr. Ab 2025 soll in der Hansestadt dann ein Ridepooling-Dienst mit autonomen Versionen des ID. Buzz etabliert werden, die von der Ridepooling-Tochter Moia betrieben werden. Verantwortlich ist hier Volkswagen Nutzfahrzeuge.

Durch den Abbruch der Zusammenarbeit mit Argo AI arbeitet VWN bei der Entwicklung der Technik für seine autonom fahrenden Mobilitätsflotten mit einem neuen Partner zusammen. Dieser soll, ebenso wie ein neues “Self-Driving-System” im ersten Halbjahr 2023 bekanntgegeben werden, sagt VWN-CEO Carsten Intra. Ebenfalls 2023 sollen umfangreiche Testfahren in München durchgeführt werden. Offenbar sieht man sich bei VWN weniger betroffen von den Problemen rund ums automatisierte Fahren für individuelle Mobilität. “Wir sind im riesigen Markt für für autonome Mobilitätslösungen in der Pole Position”, so Intra.

Eine weitere Zukunftsvision rund um die Selbstfahr-Technologie bildet OnePod. Die autonome und elektrische Konzeptstudie wurde vom Volkswagen Group Future Center Europe in Potsdam entwickelt und gibt mit ihrem konfigurierbaren Innenraum einen Ausblick auf die urbane Mobilität der Zukunft sowie die künftige Kommunikation zwischen Fahrzeugen und anderen Verkehrsteilnehmern.

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Die Studie OnePod gibt einen Ausblick auf künftige People Mover. (Bild: Volkswagen)

Daten dienen als Grundlage der Entwicklung

Unter anderem arbeitet Cariad im Rahmen von Data Driven Development eigene Lösungen rund um Machine Learning und KI aus. Quantitativ habe man mit über zehn Millionen Neufahrzeugen pro Jahr im Volkswagen-Konzern perspektivisch den Datenvorteil auf seiner Seite, betont Cariad auf Anfrage von automotiveIT. Mit der Übernahme der Kamerasoftware-Sparte von Hella Aglaia habe man unter anderem die Kompetenzen im Machine-Vision-Bereich massiv ausgebaut, im April 2022 verkündete Cariad zudem die Übernahme des Automotive-Geschäfts des Chemnitzer Sensordaten-Experten Intenta.

„Die Volkswagen Automotive Cloud dient dabei ebenso als technischer Backbone wie unsere Automated Driving Platform in Kooperation mit Microsoft, die das Lernen aus gefahrenen Kilometern systematisch unterstützt“, so ein Sprecher des Wolfsburger Autobauers. Dem Gebot der Datensparsamkeit entsprechend werden viele Rechenvorgänge per Edge Computing direkt im Fahrzeug vorgenommen. Dies sei ohnehin nötig, um sämtliche Fahrsituationen auch ohne Netzwerkverbindung beherrschen zu können, heißt es bei Cariad.

Was wird aus dem Artemis-Projekt bei Audi?

Als wären die Spekulationen rund um Trinity nicht genug, wurde Ende 2022 auch Audis Artemis-Projekt in Frage gestellt. Ursprünglich hatte die Entwicklungsorganisation für das E-Fahrzeug mit autonomen Funktionen auf Strukturen und Prozesse außerhalb der traditionellen Konzernsysteme aufgebaut, inzwischen wurde das Projekt allerdings unter Leitung von Oliver Hoffmann in der Technischen Entwicklung bei Audi aufgehängt.

Die Softwareentwicklung für das Zukunftsmodell übernimmt ebenfalls Cariad, den Prozessor liefert mit Nvidia ein weiterer Partner. Im Fokus von Artemis stehen neue Technologien rund um das elektrische, hochautomatisierte Fahren mit konkretem Modellbezug. Der erste Auftrag ist ein neues Elektroauto, das ursprünglich 2025 auf die Straße kommen sollte. Das Team soll außerdem ein Ökosystem um das Auto herum schaffen und so ein neues Geschäftsmodell für die gesamte Nutzungsphase entwerfen.

Cariad muss es für VW jetzt richten

Volkswagen setzte beim autonomen Fahren lange Zeit auf eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte, Unternehmenseinheiten und Partnerschaften. Dabei musste sich der Konzern die Frage gefallen lassen, ob die Stoßrichtung aller Akteure zwangsläufig immer dieselbe ist. Vor allem bei der bereits mehrfach veränderten Organisationsstruktur des Artemis-Projektes, an dem ursprünglich auch Porsche mitgewirkt hatte, zeigt sich, dass der Volkswagen-Konzern noch immer Nachholbedarf bei einer eindeutigen Aufteilung der Ressourcen und Kompetenzen aufweist. Ob es Volkswagen gelingen wird, eine eindeutige Strategie herauszuarbeiten und entsprechende Fahrzeuge auf die Straße zu bringen, wird zu einem großen Teil davon abhängen, ob die Software-Tochter Cariad in Zukunft zuverlässig abliefern kann.

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