Die VW-Krise lässt sich lösen, aber nicht nur über sinkende Arbeitskosten, sagt Gewerkschafterin Christiane Benner. Vor dem Industriegipfel beim Kanzler fordert sie Kaufanreize für E-Autos, in der Tarifrunde höhere Löhne.
SPIEGEL: Frau Benner, Sie werden morgen am Industriegipfel teilnehmen, den Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin einberufen hat. Was erwarten Sie sich von der Veranstaltung?
Benner: Einen großen Wurf. Wir benötigen in Deutschland dringend ein Signal des Aufbruchs. Dieser Gipfel muss zeigen, dass die Politik verstanden hat und jetzt Schritte unternimmt, um die Wirtschaft und damit die Arbeitsplätze in diesem Land zu stabilisieren. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen guter Arbeit und stabiler Demokratie. Deshalb wollen wir die Industrie stark halten.
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Benner: Wir haben mehrere Forderungen, aber die Lage ist so ernst, dass wir uns auf die zwei wichtigsten Bereiche konzentrieren. Zunächst müssen wir die energieintensiven Industrien unterstützen. Davon sind branchenübergreifend große und kleine Unternehmen betroffen. Sie und ihre Beschäftigten brauchen verlässliche Energiekosten. Die Situation ist unsicher und kompliziert. Wir brauchen aber einen dauerhaft verlässlichen und wettbewerbsfähigen Strompreis.
SPIEGEL: Warum ist dieses Zeichen so wichtig?
Benner: Die Unternehmen benötigen Planbarkeit, um Investitionen zu tätigen und Arbeitsplätze zu sichern. Momentan entscheiden sich Unternehmen aber zu oft für Stellenabbau, gegen Deutschland, und wandern ab. Dabei geht es nicht nur um Beschäftigung, sondern auch um Unternehmen und Kompetenzen, Wissen, das wir in Europa benötigen, auch um CO₂-neutral werden zu können. Es bringt nichts, wenn wir den Stahl künftig aus China importieren, um ihn dann in Fahrzeugen und den ganzen Branchen, die auf Stahl angewiesen sind, zu verbauen. Wir brauchen die ganze Wertschöpfungskette. Schon aus Gründen der Unabhängigkeit, der Resilienz, und damit wir unsere industrielle Basis erhalten können.
SPIEGEL: Welcher ist Ihr zweiter Schwerpunkt beim Gipfel?
Benner: Der Bereich Automobil: die Hersteller und die Zulieferer. Wir haben ein Problem mit dem Hochlauf der Elektromobilität. Wir müssen die Nachfrage ankurbeln. Wir halten Sonderabschreibungen bei der Steuer für sinnvoll oder soziale Leasingmodelle wie in Frankreich, mit niedrigen Raten für Menschen mit kleinen Einkommen. Außerdem brauchen wir endlich eine flächendeckende Ladeinfrastruktur und auch günstigen Ladestrom. Heute ist es teilweise noch immer billiger, Benzin zu tanken.
Benner: Nein. Zum einen kommen Hersteller wie VW, Mercedes, BMW oder Stellantis in den kommenden zwei Jahren mit eigenen günstigen, kleinen Modellen auf den Markt. Zum anderen würden wir die Förderung der Fahrzeugtypen an die europäische Wertschöpfung knüpfen. Damit würden wir nicht nur die Hersteller, sondern auch die deutsche und europäische Zulieferindustrie stabilisieren. Ich kann mir eine Akzeptanz für eine solche Förderung mit deutschen Steuergeldern nur schwer vorstellen, wenn damit vor allem chinesische Hersteller unterstützt würden.
SPIEGEL: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck plant einen Deutschlandfonds, über den nicht nur größere, sondern auch kleinere Unternehmen mit einer staatlichen Prämie von zehn Prozent bei Investitionen unterstützt werden sollen und für Infrastrukturmaßnahmen. Halten Sie dies für einen geeigneten Weg aus der Krise?
Benner: Ich sage, her damit! Das kann ein zusätzlicher Anreiz sein für die Wirtschaft und gerade auch für kleinere Unternehmen. Ich finde gut, dass Habeck dezidiert auch die Familienunternehmen und das Handwerk angesprochen hat. Was allerdings wichtig ist, dass nicht mit der Gießkanne ausgegossen wird, sondern darauf geschaut wird, wo man Hebelwirkungen erreichen kann. Und es muss Schluss sein mit der Schuldenbremse, wie sie gerade ist. Es geht doch darum, notwendige Investitionen in die Zukunft leisten zu können. Aus dem Korsett des Haushalts können wir das nicht stemmen. Ob jetzt die Schuldenbremse gelöst oder ein Sondervermögen eingerichtet wird, ist mir wumpe. Hauptsache, wir investieren endlich in unsere Zukunft!
SPIEGEL: Die Ampelkoalition ist zerstritten über den Haushalt. Finanzminister Christian Lindner lädt kurzerhand Unternehmensverbände, die der Kanzler zum Industriegipfel nicht eingeladen hatte, morgen kurzfristig zu einem Gegengipfel ein. Glauben Sie, dass diese Regierung noch die Kraft hat, etwas zu bewegen?
Benner: Es ist keine Zeit mehr für solche Spiele. Dass es eine solche Zerrüttung in der Politik geben würde, konnte ich mir zu Beginn dieser Regierung nicht vorstellen. Ich dachte, das sei eine Fortschrittskoalition. Ich hätte mir ein stärkeres Bewusstsein und mehr Verantwortung für die industrielle Stärke dieses Landes gewünscht. Ich bin echt sauer, dass die Regierung, einige Teile davon besonders, so die Zukunft des Landes verspielt, wenn sie sich jetzt nicht zusammenreißen.
Benner: Super. Morgen früh werde ich in Ingolstadt beim bayerischen Warnstreik unserer Auszubildenden sein und dann von dort nach Berlin zum Industriegipfel reisen. In der Tarifrunde kümmern wir uns um das, was wir gestalten können. Wir reden hier über die Löhne von 3,9 Millionen Beschäftigten, auch das ist ein Hebel. Da geht es um Kaufkraft. In Berlin werden wir die industriepolitischen Dinge verhandeln, die wir nicht tarifvertraglich lösen können.
SPIEGEL: Sie fordern sieben Prozent mehr Lohn und 170 Euro mehr für Auszubildende. Jetzt sagen die Unternehmen, das ist nicht angemessen mitten in einer Wirtschaftskrise.
Benner: Das sagen die Arbeitgeber in jeder Tarifrunde. Und wenn es gut läuft, heißt es, damit gefährden wir den weiteren Aufschwung. Wenn es uns schlecht geht, geht es auch nicht, weil das dann die Unternehmen zu sehr belastet. Fakt ist, wir haben 34 Prozent Preissteigerung allein bei den Lebensmitteln seit der Vorkrisenzeit 2020. Unsere Leute haben eine enorme Kostenbelastung, gerade bei den Alltagsausgaben. Sie brauchen mehr Geld.
SPIEGEL: Die Arbeitgeber haben als erstes Angebot 1,7 Prozent und 1,9 Prozent mehr Gehalt in zwei Stufen auf 27 Monate vorgelegt. Da sind Sie noch weit auseinander. Vor der Tarifrunde wurde von allen Seiten bekundet, dass man zu einem schnellen Abschluss kommen möchte. Ist das noch immer realistisch?
Benner: Die Arbeitgeber müssen jetzt einen Sprung in der dritten Verhandlungsrunde machen und nachlegen. Und mit unseren Warnstreiks werden wir richtig Druck reinbringen. Wir haben sehr kampflustige Belegschaften. Das Angebot der Arbeitgeber ist zu niedrig, die Laufzeit zu lange und die erste Stufe der Lohnerhöhung soll erst in neun Monaten kommen. Das geht überhaupt nicht.
SPIEGEL: Am Mittwoch beginnt die zweite Runde bei den Tarifverhandlungen bei VW. Dort dürfte nicht Ihre Sieben-Prozent-Forderung im Mittelpunkt stehen, sondern die Beschäftigungssicherung. Der Kampf für den Erhalt von zigtausend Arbeitsplätzen und gegen Werksschließungen und Einkommensverluste der Beschäftigten. Laut VW-Betriebsrat droht das Unternehmen mit der Schließung von drei Werken. Wie wollen Sie dieses Dilemma auflösen?
Benner: Erst mal hat die Arbeitgeberseite noch nichts offiziell auf den Tisch gelegt. Bisher hat sie mit Werksschließungen gedroht und die Beschäftigungssicherung aufgekündigt. Das Management hat den Pfad der vertrauensvollen Zusammenarbeit verlassen. Wir haben in der Vergangenheit Zukunftstarifverträge abgeschlossen und mit zu Lösungen beigetragen. Wir wollen auch diesmal Teil der Lösung sein. Jetzt muss das Management erst einmal erklären, welche Prozessverbesserungen sie machen wollen und wie die Modellpolitik aussehen soll.
SPIEGEL: Eins ist sicher: VW wird harte Sparmaßnahmen einfordern.
Benner: Die Krise bei VW würde sich nicht allein über die Senkung der Arbeitskosten lösen lassen. Zunächst muss mal das Management seine Hausaufgaben machen und dann sind wir wieder beim Industriegipfel. Er ist ja auch eine Reaktion auf die Krise der Automobilwirtschaft. Die Ankündigungen von VW waren so etwas wie ein Weckruf, dass wir auch strukturell etwas machen müssen. Es wird deutlich, welch weitreichende Auswirkungen das auch auf die Zulieferindustrie hat, nicht nur in Deutschland. Ich war gerade auch bei Zulieferern in Österreich und Italien. Die Auswirkungen sind bereits spürbar. Es geht also auch um die Zukunft der Industrie in Europa.