Luxuslimousinen sind unter Druck – seit Jahren. Elektroantriebe und SUV-Wahn machen den elitären Edelkreuzern das Leben immer schwerer. Lucid wagt es trotzdem und bringt seinen Air auch nach Europa – eine etwas andere Art der Luxuslimousine.
Zurückhaltung ist nicht die Sache des Lucid Air. Bei den Ladestopps an der Autobahnraststätte Spessart oder an einem namenlosen Einkaufszentrum in Oberfranken ist die Hölle los, als der Air nach dem Parkvorgang am Hypercharger Energie zieht. Die einen kommen verschämt herüber, zücken aus der Hosentasche die Handykamera, andere fragen direkt: ist das der Lucid? Ist es und er hat es in sich.
Stefan Grundhoff / Lucid Motors
Der Fahrer blickt auf nüchterne Instrumente hinter einer gigantischen Glasscheibe, vermisst ein Head-Up-Display und genießt den mächtigen Zentralbildschirm, der sich auf Knopfdruck in den Instrumententräger schiebt und eine größere Ablage freigibt. Hier gilt wie schon außen: Der Lucid macht einiges anders als die etablierte Konkurrenz und er macht es gut. Viel Platz gibt es dank des 2,96 Meter langen Radstandes nicht nur für die Insassen vorne wie hinten, sondern auch für das Gepäck.
Dabei will der Lucid Air Touring kein Raumwunder sein, sondern eine automobile Designikone, die mit ihrem Elektroantrieb beeindrucken will. Auf Wunsch gibt es den Air mit mehr als 1100 PS, doch die größte Marktrelevanz dürfte gerade in Europa die Touring-Version haben. Deren Elektromotoren an Vorder- und Hinterachse leisten gemeinsam 462 kW / 629 PS und ein mehr als stattliches Drehmoment von 1200 Nm. Trotz der knapp 2,4 Tonnen Leergewicht reicht das, um allemal dynamisch bis sportlich unterwegs zu sein. Aus dem Stand beschleunigt der Allradler in 3,6 Sekunden auf Tempo 100; regelt für diese Leistung allerdings recht früh bei 225 km/h ab. Schneller rennen dürfen die stärkeren Versionen, die bis zu 270 km/h fahren dürfen.
Das 92 kWh große Akkupaket reicht im WLTP-Zyklus für bis zu 725 Kilometer – im flotten Realbetrieb sind 500 bis 550 Kilometer realistischer. Da die Ladegeschwindigkeit bei 250 kW liegt, dauern die Ladestopps am Hypercharger jedoch kürzer als bei den meisten Wettbewerbern. Schade für die Fotofans, die zumeist einen Tesla im Alltag bewegen.
Dabei fährt sich der mindestens 129.000 Euro teure Lucid Air Touring nicht nur wegen seines spektakulären Aussehens wie ein Raumschiff aus einer fernen Zukunft. Der Schub ist aus jedem Tempobereich gewaltig und die beiden Elektromotoren sorgen dafür, dass die Kraft beeindruckend lässig auf den Boden gebracht wird, während die Digitalziffern nur so durchrauschen. Unabhängig vom angewählten Fahrprogramm bietet die Lenkung wenig Rückmeldung von der Fahrbahn. Das gilt auch vom Fahrwerk, das sehr komfortabel abgestimmt ist, ohne fahrig oder allzu weich zu sein. Hier machen sich die serienmäßigen 19-Zöller im Format 245 / 45 R 19 bemerkbar, denn mit den optionalen 20- oder 21-Zöllern wird es spürbar strammer.
In schnell gefahrenen Kurven und speziell auf Landstraßen würde man sich einen aktiven Wankausgleich wünschen, der die Neigung minimiert. Keine Frage: Der Lucid Air ist eine Bereicherung für die elektrische Premiumliga, denn er ist noch mehr anders, als es früher Marken wie Jaguar, Lancia oder Volvo waren, um eine Alternative zur deutschen Premiumklasse zu sein. Doch die Stückzahlen einer solchen Luxuslimousine mit 480 bis über 1100 PS dürften sich in Grenzen halten, da Lucid die Markenbekanntheit fehlt und das Segment kein leichtes ist. Anders könnte es dagegen mit dem SUV-Bruder Lucid Gravity aussehen, der Ende 2024 seine Premiere feiern soll.