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Ist’s ein Stahl- oder ein Alu-Auto?

Mercedes-Benz ist wohl mit Recht stolz auf die guten Eckdaten seiner neuen S-Klasse:Hohe Crashsicherheit, Leichtbau und Steifigkeit bei gleichzeitig bestem Geräusch- und Schwingungskomfort – das waren laut Mercedes-Benz die Entwicklungsziele beim Rohbau der neuen S-Klasse, die als Baureihe 222 seit Juni 2013 montiert wird.

ist’s ein stahl- oder ein alu-auto?

(Archiv: Vogel Business Media)

Die sogenannte Leichtbaugüte der neuen S-Klasse wurde gegenüber dem Vorgänger um 50 Prozent verbessert. Dieser Kennwert setzt die Verwindungssteifigkeit in Bezug zur Standfläche des Fahrzeugs und zu seinem Gewicht. Dazu wurden alle relevanten Knotenbereiche hinsichtlich des Kraftflusses optimiert und gezielt verstärkt. Ziel der Auslegung des Rohbaus war es, den bereits sehr guten Vorgänger in punkto Schwingungs- und Akustikkomfort zu übertreffen, ohne dabei auf intelligenten Leichtbau zu verzichten. Die Rohbaustruktur der neuen S-Klasse erreicht neue Bestwerte bei der dynamischen Steifigkeit dank neuer Strukturkonzepte und spezieller Rohbaumaßnahmen. Dazu zählen unter anderem:

  • Integrales NVH-Vorbaukonzept (Noise, Vibration, Harshness = unerwünschte Nebengeräusche), bestehend aus Längsträgern aus Alu-Strangpressprofilen, Alu-Gusselementen am Übergang Vorbau/Zelle und am Dämpferdom, Integralträger als schwingungstechnisch mittragendes Element
  • Erhöhter Einsatz von Streben zur gezielten Steifigkeitserhöhung
  • Rückwand und Cockpitquerträger in Metall-Kunststoff-Hybridbauweise
  • Einsatz rohbauversteifender Schäumlinge in A-/B-/C-Säule

Keine Gewichtserhöhung seit 20 Jahren

Seit der Entwicklung der Baureihe 220 in den 1990er-Jahren wurde der hybride Leichtbau mit Materialmix bei Mercedes-Benz zum Aluminium-Hybrid-Rohbau weiter entwickelt. In dieser Zeit stieg der Aluminiumanteil auf über 50 Prozent. Unter anderem deshalb konnte das Gewicht der Karosse seit 20 Jahren trotz erheblich gestiegener Sicherheits- und Komfortansprüche und zusätzlicher Funktionen gehalten bzw. sogar leicht gesenkt werden. Zusätzlich kommen in der neuen Baureihe punktuell in Knotenbereichen wirkende Strukturschäume zum Einsatz.

Die komplette Außenhaut der S-Klasse einschließlich des Dachs sowie der Karosserie-Vorbau bestehen aus Aluminium. Der hohe Aluminiumanteil wurde durch Nutzung der kompletten Halbzeugpalette (Guss, Strangpress, Blech) möglich. Die Sicherheits-Fahrgastzelle zeichnet sich durch die intensive Verwendung von höchstfesten Stählen aus.

Blick auf die Fahrdynamik: Leichtbaumaßnahmen

Der Vorbau ist eine der bevorzugten Leichtbauzonen, um eine ausgewogene Gewichtsverteilung des Gesamtfahrzeugs zu erreichen. So wurde frühzeitig entschieden, in diesem Bereich Aluminium als Leichtbaumaterial einzusetzen. Gegenüber einem Vorbau aus Stahl konnte neben der Gewichtseinsparung auch eine deutliche Steigerung der Crash- und NVH-Performance (Erklärung s. o.) erreicht werden. Neben Aluminiumblech werden auch Aluminiumguss und Aluminiumstrangpressprofile eingesetzt. Für die Dämpferbeinkonsole wurde aufgrund der guten Integrationseigenschaft Aluminiumdruckguss gewählt. So wurde zum Beispiel die Anbindung des Frontmoduls ohne zusätzliche Halter umgesetzt. Neben der Bauteilreduzierung bietet Druckguss auch die Möglichkeit, das Bauteil beanspruchungsgerecht auszulegen. Durch morphologische Untersuchungen wurden die Wanddicken und der geometrische Verlauf des Bauteils so ausgelegt, dass die hohen funktionalen Anforderungen punktgenau erfüllt werden.

Mercedes-Benz lobt seine Konstruktion

Ergänzend zur lokalen Optimierung der Einleitungssteifigkeiten an der Dämpferbeinkonsole und am Integralträger wurde zur weiteren Verbesserung im Gesamtsystem ein funktionsübergreifender Lastpfad geschaffen. Die in X-Richtung von der Dämpferbeinkonsole zum Querträger unter Windschutz verlaufenden Aluminium-Streben dienen zur Unterstützung beim Crash. Ergänzt um ein mehrteiliges Fachwerk, dienen diese Streben gleichzeitig zur Unterdrückung der Y-Bewegung der Längsträger. Durch diese Bauweise war es möglich, den neuen Lastpfad in den eingeschränkten Packagebauräumen im Vorbau unterzubringen. Die Einleitung der Kräfte in die Rohbaustruktur erfolgt in den dreiteiligen Querträger unter Windschutz, der im mittleren Teil als Alugussbauteil ausgelegt worden ist. Auch hier ermöglicht das Gussteil die funktional perfekte Anbindung mit deutlichen Gewichts- und Bauraumvorteilen.

Die Längsträger wurden als kombinierte Alu-Strangpress-/Gusslösung ausgelegt, um auch hier ein Optimum aus Crashperformance, Steifigkeit und Bauteilintegration zu erreichen. Die aus Package-Gründen notwendigen Verprägungen des Alu-Strangpressprofils der Längsträger wurden so ausgelegt, dass gleichzeitig das Faltverhalten im Crash positiv beeinflusst wird. Der durch einen Schäumling geschlossene Hohlraum wird außerdem als Resonanzvolumen für das Frontbasssystem verwendet. Der Anschluss der Längsträger an die Stahl-Fahrgastzelle erfolgt über Alu-Gussbauteile, die eine sehr steife Anbindung und die Integration der Integralträgeranbindung ermöglichen.

Anspruchsvolle Fügetechnik von Stahl und Alu

Der Bereich der Stirnwand wurde als Stahlblechkonstruktion umgesetzt. Neben der optimalen Erfüllung der funktionalen Anforderungen konnte hier die anspruchsvolle Hybridfügestelle zwischen Aluminiumvorbau und Stahlzelle integriert werden. Eine besondere Herausforderung stellte dabei die mechanische Fügetechnik zu den modernen höchstfesten Stählen dar.

Neben dem Vorbau werden auch die Integralträger in Aluminium mit dem niedrigsten Gewicht in ihrer Klasse umgesetzt. Zusätzlich zu seiner Funktion als Aggregateträger für eine Vielzahl von Aggregaten ist der Integralträger ein zentraler Baustein der Vorbaustruktur zur Erfüllung der Crash- und NVH-Funktionen. Gegenüber der Vorgängerbaureihe wird neben Motor, Lenkung, Drehstab und Vorderachse auch das komplette Kühlmodul am Integralträger befestigt. Die Längsträger des Integralträgers bilden außerdem den dritten Crashlastpfad im Vorbau. Zur Erfüllung dieser vielfältigen Anforderungen bei gleichzeitigem Leichtbau war es notwendig, auch hier eine komplexe Aluminium-Mischbauweise aus Druck-/Kokillenguss, Strangpressprofilen und Blechteilen umzusetzen.

Erstmalig ein Alu-Dach in der S-Klasse

Das Dach stellt eine weitere Leichtbauzone dar, da eine Reduzierung der Masse in diesem Bereich sich positiv auf die Schwerpunktlage des Fahrzeugs und auf das NVH-Verhalten (schwingbare Masse) auswirkt. Erstmalig bei Mercedes-Benz besitzt die neue S-Klasse ein Aluminium-Dach. Die besondere Herausforderung ist die Integration des Daches in eine Stahlstruktur. Dieses wurde durch eine effiziente und einfache Montagelösung im Rohbau gelöst. Dabei wird das Dach im Rohbau mit Hilfe von Laschen auf der Rohbaustruktur in einem definierten Abstand für den Fabrikdurchlauf fixiert. Aufgrund des sich bildenden Spalts zwischen Rohbaustruktur und Dach wird sichergestellt, dass die Bauteile bei der kathodischen Tauchlackierung (KTL) vollständig beschichtet werden.

Sogenannte Schäumlinge mit enormer Bedeutung

Eine besondere Leichtbaumaßnahme ist die Anwendung von Strukturschäumlingen an funktional kritischen Knotenbereichen zur Realisierung einer hohen NVH-Performance. Vorabuntersuchungen haben gezeigt, dass eine vergleichbare Performance nur durch massive Verstärkungen, die teilweise einseitige Fügeverfahren erfordert hätten, erreicht worden wäre. Solche Verstärkungen hätten eine zweistellige Gewichtserhöhung der Rohbaukarosserie bedeutet. Durch die Funktionsweise der Schäumlinge ist es möglich, diese genau an den funktional kritischen Knotenbereichen zu positionieren. Denn auf produktionsspezifische Belange, wie beispielsweise Beschränkungen der Fügetechnik oder die Fügereihenfolge der Bauteile, muss keine Rücksicht genommen werden. Des Weiteren können auch Querschnitte mit mehreren Kammern kraftschlüssig miteinander verbunden werden.

Fahrgastzelle aus hochfesten Stählen

Die Sicherheitsfahrgastzelle besteht primär aus Stahl. Durch den Einsatz von höheren Stahlgüten konnte das Gewicht gegenüber dem Vorgänger konstant gehalten werden, obwohl erheblich höhere Crashanforderungen (schräger Mast) und höhere NVH-Anforderungen erfüllt werden. Alle relevanten Bauteile wurden hinsichtlich der Materialgüte um eine Güteklasse erhöht. So werden im Bereich der B-Säule, Dachrahmen und Tunnelverstärkung ultrahochfeste warmumgeformte Stähle, die gewichtsoptimiert als tailored products mit unterschiedlichen Blechdicken ausgeführt sind, eingesetzt. Im Bereich des unteren Längsträgers wird erstmalig ein ultrahochfester Stahl (CP 1000) als rollprofiliertes Bauteil eingesetzt. Unterstützt wird dieser Materialleichtbau im Stahl auch durch den Formleichtbau. Dazu zählt zum Beispiel die Ausbildung einer kraftschlüssigen Anbindung zwischen der C-Säule und dem Heckmittelstück, die eine effiziente Abstützung der Längsträger des Heckwagens bei der Fahrzeugbiegung ermöglicht.

Anbauteile aus Aluminium

Bei Anbauteilen wie Kotflügel, Motorhaube und Heckdeckel wurde der schon in den Vorgängerbaureihen beschrittene Weg weiter verfolgt und der Werkstoff Aluminium eingesetzt. Daher bestand der Anspruch, beim Gewicht den internen und externen Wettbewerb zu unterbieten und das Design mit hohen Ansprüchen an die Fugen und Falze produktionsgerecht umzusetzen.

Die Aluminium-Hybridbauweise führt dazu, dass zusätzliche mechanische Fügetechniken eingesetzt werden. Für diese Fügetechniken wurden in Zusammenarbeit mit dem Lieferanten, der Planung und der Produktion die technischen Grenzen der Verfahren ermittelt. Dadurch war es beispielsweise möglich, erstmalig hochfeste Bleche mit Aluminium zu verbinden und die Blechdicken der Bauteile primär aus funktionaler Sicht zu reduzieren. Erst durch das Zusammenspiel von Leichtbaumaßnahmen und Leichtbauprozessen konnten 50 kg Leichtbaupotentiale realisiert werden. Im Gegenzug wurde massiv in die Performance hinsichtlich Sicherheit, Komfort und Kundennutzen investiert.

Aktive Motorhaube und mehr Verformungsraum

In Ergänzung zu den Maßnahmen der Aktiven Sicherheit, die den Unfall zu vermeiden oder die Unfallschwere zu mindern helfen, wurden die Maßnahmen zur Minderung der Unfallfolgen bei einem Fußgängeranprall bei der neuen S-Klasse weiterentwickelt. Um beispielsweise die Belastungen des Fußgängers zu reduzieren, die bei einem Anprall des Kopfes auf die Motorhaube des Fahrzeugs entstehen, wurden die Deformationsräume zwischen Motorhaube und den darunter liegenden Bauteilen optimiert. Dies geschieht zum Teil durch eine entsprechende Anordnung von Komponenten wie zum Beispiel Steuergeräten oder Flüssigkeitsbehältern im Motorraum.

Bei der S-Klasse kommt zudem eine Aktive Motorhaube zum Einsatz. Eine umfangreiche Sensorik in Verbindung mit intelligenten Algorithmen löst bei einem Zusammenstoß mit einem Fußgänger pyrotechnische Aktoren im Bereich der Motorhaubenscharniere aus, welche die Motorhaube um ca. 80 mm anheben. Die Verformungseigenschaften der Motorhaube wurden gezielt auf diese Anforderungen hin entwickelt. Durch den Einsatz von Aluminium sowie einer homogenen Verstärkung auf der Innenseite der Motorhaube können die Belastungen beim Aufprall weiter reduziert werden. In Verbindung mit der angepassten Schaumhärte im vorderen Stoßfänger ergeben sich beim Anprall auf die Beine des Fußgängers reduzierte Belastungen.

Demnächst geht es in der F+K mehr ins Detail, vor allem soll es mehr über die Fügetechniken der Baureihe 222 zu lesen geben. Interessant wird sein, die Übergänge von Stahl zu Aluminium genau anschauen zu können. Wenn wir eine unlackierte Rohbaukaroserie begutachtet haben, geben wir an dieser Stelle unsere Erkenntnisse wieder.

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