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Kunst auf Rädern

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Meister der neuen Form: Marcello Gandini, der vergangene Woche starb, war einer der wichtigsten Designer des 20. Jahrhunderts. Sein Alfa Romeo Carabo von 1968 sah aus, als könne man damit mindestens zum Mond fliegen.

Der Philosoph Roland Barthes schrieb 1955, er glaube, „dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen“ sei: „Eine große Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht“ und von einem ganzen Volk benutzt werde.

Das Auto ist mit Sicherheit eines der folgenreichsten Objekte des 20. Jahrhunderts, und auch wenn es heute, wo das SUV die weltweit beliebteste Autogattung ist, vor allem als ökologisches und ästhetisches Problem in Erscheinung tritt, sollte man nicht vergessen, was es in seinen besten Momenten auch war: ein Gesamtkunstwerk, dessen Form die Stimmungen und Hoffnungen einer ganzen Epoche abbildet. Schon deswegen verdienen die Werke des vor einer Woche verstorbenen Designers Marcello Gandini einen Platz im Museum.

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Marcello Gandini mit einem Modell des Lamborghini Diablo 2007 in seinem Studio bei Turin.

Auf gläsernen Schwingen

Man muss sich nur seinen Entwurf für den Lamborghini Marzal von 1967 anschauen: statt Türen gläserne Flügel; ein komplett silberner, wie mit Raumfahrtfolie überzogener Innenraum; eine Front, die aussah, als tanke das Fahrzeug Mondstaub – das, was der damals erst 29-jährige Chefdesigner von Bertone entworfen hatte, war weniger ein Auto als ein Monument der Zuversicht und der Abenteuerfreude für eine Zeit, die an eine schnellere glitzernde und intergalaktische Zukunft glaubte.

In einem Alter, in dem Designstudenten heute noch gemütlich auf dem E-Bike zur Bachelorprüfung rollen, hatte Gandini schon ein Dutzend akzelerationistische Meisterwerke gezeichnet: Der Lamborghini Miura mit seinem hinter dem Fahrer quer eingebauten Zwölfzylindermotor war das Schnellste und Flachste, was in Italien auf die Straße gelassen wurde, selbst Ferraris sahen dagegen wie irritierte Rennpferde angesichts eines vorbeischießenden Landrochens aus. 1968 ließen die Keilform und die Materialien von Gandinis Alfa Romeo Carabo alles andere alt aussehen.

Lange hatten Autos mit ihren Scheinwerferaugen und Blechhüften an Lebewesen erinnert. Gandini machte mit dieser Sentimentalität Schluss, ersetzte Chrom und Metall durch Kunststoff und verwandelte das Auto vom Blechtier in rollende Architektur. Noch die Massenfahrzeuge, die er entwarf, der Citroën BX oder der Renault 5 II, waren architektonisch klar und nicht biomorph verquollen wie das peinliche Kühlerfratzen-Blechmuskeltheater heutiger Autos.

1973 stellte Gandini sein architektonisches Meisterwerk vor, den Lamborghini Countach, dessen Karosserie sich konsequent aus geometrischen Flächen zusammensetzte. Selbst die hinteren Kotflügel sahen nicht mehr rund aus, sondern wie von der Beschleunigung verzogene Recht­ecke, und man wäre froh, wenn aktuelle Neubaufassaden so kunstvoll proportioniert und so plastisch wären wie der Urtyp des Countach, der gerade in einer sehenswerten Ausstellung im Berliner „Drive“-Showroom gezeigt wird.

Wo sind die heutigen Formen?

Dass Autodesign immer auch die Stimmungen seiner Zeit abbildet, wird im Innenraum des Countach klar. Hier findet man nicht die Kälte metallischer Armaturen, sondern eine warme Landschaft aus sandfarbenem Glatt- und Wildleder, die an die Oberfläche des Mondes und das Dunkel des Alls denken lässt. Mit seinen Scherentüren sah der Countach aus wie ein Objekt, das eher zum Fliegen als zum Fahren gedacht war, und wenn man zu schnell über einen Hügel steuerte, tat der Wagen das zum Schrecken der Tester auch.

Kurz vor seinem Tod hat Gandini, der 1938 als Sohn eines Dirigenten in Turin geboren wurde, noch einmal öffentlich bedauert, dass die aktuellen Designer Elektroautos mit aller Macht so aussehen lassen, als seien sie ganz normale Verbrennerwagen, statt die Möglichkeiten der neuen Technik zu einem Bild zu verdichten – dass Nostalgie und die endlose Permutation des Bekannten die Suche nach dem Ausdruck neuer Möglichkeiten und Lebensweisen abgelöst habe. Gandinis Autos gaben den Träumen des Weltraumzeitalters eine Form. Auch das aktuelle Autodesign der SUVs erzählt viel, aber nichts Gutes über eine Gesellschaft, der es nur noch um Abschottung und Komfort geht.

Was sind die Objekte und Formen, die einem heute das Gefühl geben, in seiner eigenen Zeit und nicht in der Vergangenheit zu leben? VR-Brillen? Die großen, silbern glitzernden Co2-Absauganlagen, die überall zur Entfernung des Drecks errichtet werden, den die Konsummoderne hinterließ? Schnittstellen von Gehirn und KI – oder doch nur die glatte Oberfläche des Mobiltelefons, das für das 21. Jahrhundert längst geworden ist, was das Automobil fürs 20. Jahrhundert war: das Objekt, um das herum sich die Gesellschaft formiert.

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