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Mercedes Drive Pilot 95: Endlich Zeit für Spiderman

Ab Anfang nächsten Jahres können EQS und die S-Klasse autonom fahren. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 95 km/h. Wir haben es ausprobiert.

Spiderman ist gerade voll in Fahrt und vermöbelt seinen Erzfeind Mysterio nach allen Regeln der Kunst. Wir genießen den Surround-Sound, das gestochen scharfe Bild und das Popcorn. Auch wenn es gezuckert ist. „Spider-Man: Far From Home“ ist nichts Besonderes. Ein Marvel-Film, den man schon gesehen hat. Stimmt. Aber wir sitzen am Steuer eines Mercedes EQS und brettern mit 90 Sachen über die Autobahn. Eigentlich. Denn das Kommando haben nicht wir, sondern der Mercedes Drive Pilot 95.

Der Name ist Programm: Jetzt können EQS und S-Klasse also nicht mehr nur mit 60 km/h auf Level 3 autonom fahren, sondern auf der Stadtautobahn bis zu einer Geschwindigkeit von 95 km/h. Klingt nach wenig, ist aber ein himmelweiter Unterschied. So kann der Robo-Benz auch außerhalb geschlossener Ortschaften auf Schnellstraßen beziehungsweise baulich getrennten Fahrbahnen agieren. Damit sind auch längere Strecken machbar, ohne dass der Fahrer unterwegs sein Hauptaugenmerk auf den Verkehr lenken muss. Zur Erinnerung: Automatisiertes Fahren auf SAE-Level 3 bedeutet, dass das Auto für eine gewisse Zeit und auf geeigneten Strecken selbstständig das Kommando übernehmen kann.

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Striktes Rechtsfahrgebot Der Drive Pilot im Mercedes EQS funktioniert bis zu einer Geschwindigkeit von 95 km/h und nur auf der rechten Fahrspur.

Allerdings ist das autonome Fahren deutlich komplexer als noch vor wenigen Jahren angenommen. Das von einigen Automobilmanagern ausgegebene Ziel, im Jahr 2021 bereits auf Level 4 autonom zu fahren, erwies sich schnell als illusorisch. Mercedes ist vorsichtig geworden und gibt für Ende der Dekade das Ziel aus, mit Tempo 130 auf Level 3 hochautomatisiert fahren zu können.

Ohne LiDAR geht es nicht

Das ergibt Sinn: Nicht auszudenken, was in hierzulande los wäre, wenn ein autonomes Fahrzeug eines deutschen Herstellers einen Unfall verursachen würde. In den USA ist genau das bereits passiert. Zu diffizil ist die Technik und vor allem die dazugehörige Software. Schließlich muss das Auto es dem Menschen gleichtun und in Sekundenbruchteilen die richtige Entscheidung treffen.

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Hier wird nicht gerast Theoretisch kann der Autofahrer dem Computer stundenlang die Kontrolle überlassen – wenn der sich mit einer Fahrgeschwindigkeit von 95 km/h begnügt – und sich auf der Autobahn auf der Lkw-Spur einreiht.

Es liegt auf der Hand, dass der Mensch beim autonomen Fahren nicht zum Beta-Tester werden darf. Weder im noch außerhalb des Fahrzeugs. Da ist es nur logisch, dass es bei den Robo-Autos nicht mit einem riesen Satz direkt zu Level 4 (das Auto kann hier auf speziellen Strecken, wie zum Beispiel auf Autobahnen oder auch in Parkhäusern, komplett selbsttätig fahren – auch ohne Menschen an Bord) geben kann. Selbst Elon Musk musste einsehen, dass das ohne LiDAR-Sensoren nicht funktioniert. Diese sind zwar teuer, bieten aber Vorteile wie eine genaue digitale 3-D-Darstellung der Umgebung und eine ziemlich große Reichweite.

Zusammenspiel der Systeme

„Jeder Sensor hat Stärken und Schwächen“, erklärt Taner Kandemir, der bei Mercedes für das autonome Fahren verantwortlich ist. Deshalb sind die robusten Radarsensoren, die auch bei Nebel und Schmutz funktionieren, genauso wichtig wie die Antenne auf dem Dach, die zusammen mit Satelliten in 250 Kilometern Höhe und den extrem genauen Karten des Navigationssystems hilft, die Position des Autos auf den Zentimeter genau zu bestimmen.

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Armada von Sensoren Das (aufpreispflichtige) Drive-Pilot-System besteht aus einer Vielzahl von Kameras, Radar- und Ultraschallsensoren sowie einem LiDAR-System, das die Fahrbahn auch bei Nacht und im Regen auf Hindernisse abtastet.

Basis für den Drive Pilot von Mercedes sind aktuelle Fahrzeuge, die mit mehr als 40 Assistenzsystemen an Bord bereits autonome Fahrmanöver auf Level 2+ ausführen können. Deshalb beherrscht auch der Mercedes EQS, in dem wir hinter dem Lenkrad sitzen, auch einen selbsttätigen Spurwechsel – solange die Hände am Volant bleiben. Das darf der Robo-Benz des Levels 3 normalerweise nicht.

Extra für fast 6000 Euro

Ab Anfang des nächsten Jahres werden erste fabrikneue S-Klassen und EQS-Modelle mit dem Drive Pilot 95 ausgeliefert. Bestehende Fahrzeuge mit Drive Pilot 60 – Aufpreis im EQS: 5.950 Euro Euro – erhalten ein kostenloses Update. Damit können die Autos nun auch auf der Autobahn ohne menschliches Zutun fahren. Allerdings setzen Mercedes und der Gesetzgeber noch enge Grenzen: Die Sicherheit geht vor. So gilt für den Drive Pilot ein striktes Rechtsfahrgebot. Das heißt: Die rechte Spur der Straße mit baulich getrennten Fahrbahnen ist das Habitat des Mercedes mit aktivem Drive Pilot 95. Aber eben auf der Autobahn und schneller als bisher. Im Grunde ist dieser Drive Pilot eine Weiterentwicklung des Stauassistenten.

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Alarmstufe Rot Erst wenn der Robo-Benz mit pulsierenden weißen LEDs links und rechts im Lenkradkranz Bereitschaft signalisiert, kann der Drive Pilot aktiviert werden – und der Blick des Fahrers längerfristig von der Fahrbahn genommen werden.

Wir klemmen uns im EQS hinter einen Lkw als Führungsfahrzeug. Um es dem System einfacher zu machen, haben wir den adaptiven Tempomaten samt den autonomen Fahrfunktionen des Level 2+ aktiviert. Laut Mercedes soll die Aktivierung auch ohne diese Vorkonditionierung und bis Tempo 100 funktionieren, das Fahrzeug bremst dann automatisch auf Tempo 95 ab. Das Prozedere der Übergabe von Mensch zur Maschine ist vom Drive-Pilot-Vorgänger bekannt: Der Robo-Benz signalisiert mit pulsierenden weißen LEDs links und rechts im Lenkradkranz Bereitschaft. Wir drücken auf die blinkenden Knöpfe, nehmen die Hände vom Volant, schnappen uns das Popcorn und bewundern die menschliche Spinne auf dem Bildschirm seitlich vor uns.

Blaulicht irritiert den Piloten

Bei strahlendem Sonnenschein erfüllt das System seine Aufgabe ziemlich gut und lässt sich auch von einscherenden Autos nicht aus der Ruhe bringen. Vor allem, wenn die Bedingungen perfekt sind. Das heißt Laster oder anderer Pkw vorne, Markierungen eindeutig. Das geht mehrere Minuten gut, aber im Stadtgebiet Berlins ist das automatisierte Glück bisweilen nur von kurzer Dauer: Bei Baustellen und auf rechten Fahrbahnen, die zu einer Abbiegespur werden, verabschiedet sich der Autopilot und der Mensch muss wieder das Steuer übernehmen.

Gleiches gilt, wenn sich Einsatzfahrzeuge von hinten nähern. Das ist zwar von Mercedes so gewollt, weil der Mensch in solchen Situationen immer noch die besten Entscheidungen trifft. Es zeigt aber, wie komplex das autonome Fahren ist – und wie weit der Weg noch zum echten Robo-Taxi. Vor allem nervt es, wenn Spiderman dem Endgegner gerade den Garaus macht.

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Mal kurz vorbei Der Mercedes EQS mit Drive Pilot beherrscht auch selbsttätige Spurwechsel. Die Hände des Fahrers müssen bei den Überholvorgängen allerdings am Lenkrad bleiben – und der Blinker gesetzt sein.

Wie eng die regulatorischen Leitplanken gesetzt sind, erkennt man, wenn die Blaulichter auf den entgegengesetzten Fahrbahnen blinken. Sobald man an denen vorbei ist, erkennt die Heckkamera auch diese und fordert den Fahrer auf, das Ruder in die Hand zu nehmen. Wenn es um das Bilden von Rettungsgassen geht, steht der Mercedes wieder Gewehr bei Fuß.

Wie schnell kontert Tesla?

Interessant wird es, wenn der Mensch der Übernahmeaufforderung der Maschine nicht nachkommt. Nach einer Reihe von haptischen und akustischen Signalen (Gurtstraffer rüttelt am Oberkörper) ohne eine Reaktion des Menschen, greift der Drive Pilot wieder ein und dirigiert das Vehikel auf die Standspur. Ein Spurwechsel ist dann erlaubt. Eine sinnvolle Weiterentwicklung zum bloßen Bremsen bis zum Stillstand, der Tempo-60-Version.

Bei Mercedes ist man mit dem Erreichten zufrieden und hat das System dem Kraftfahrtbundesamt sowie dem Wirtschafts- und Verkehrsministerium präsentiert. „Wir haben derzeit das schnellste Auto“, strahlt Taner Kandemir. Wie lange der Vorsprung Bestand hat, bleibt abzuwarten: Tesla will sein Robotaxi am 10. Oktober vorstellen. Wahrscheinlich mit viel Tamtam und großen Worten. Alles andere würde Elon Musk nicht gerecht. Fakt ist: Mercedes liefert jetzt schon. Und das auf deutschen Autobahnen.

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