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Keine Straßen, keine Autos – Wales unternimmt radikale Verkehrswende

Wales will Emissionen durch strikte Regeln reduzieren und macht auch nicht vor wichtigen Verbindungsstraßen Halt. Zuletzt fiel die Erweiterung einer hoch frequentierten Brücke dem Rotstift zum Opfer – nur eines von 32 Projekten. Ganze Regionen fürchten nun abgehängt zu werden.

keine straßen, keine autos – wales unternimmt radikale verkehrswende

Das geplante Neubauprojekt der Menai-Hängebrücke entfällt Getty Images

Nach einem friedlichen Fluss sieht die Menai-Straße an einem sonnigen Frühlingstag aus. Doch das Bild der Ruhe trügt. In dem Gewässer, das die Insel Anglesey vom walisischen Festland trennt, führen versetzte Gezeiten zu heftigen Strömungen und gefährlichen Strudeln.

Entsprechend gefeiert wurde die Hängebrücke des Ingenieurs Thomas Telford bei ihrer Eröffnung 1826. Das damals weltweit größte Bauwerk seiner Art verkürzte denn auch die Fahrzeit zwischen London und Holyhead, dem wichtigsten Hafen für Fähren nach Irland, um neun Stunden.

Bis heute ist das Bauwerk aus Kalkstein und Stahl eine zentrale Verbindung nach Anglesey, seit 1850 ergänzt durch eine Doppelbrücke für Straßen- und Bahnverkehr 1,5 Kilometer weiter westlich. Doch die Querungen stoßen seit Jahren an ihre Grenzen, zu Stoßzeiten steht der Verkehr vor den Zufahrten regelmäßig. Verschärft wurde die Lage, als die Menai-Hängebrücke im vergangenen Herbst überraschend aus Sicherheitsgründen komplett geschlossen werden musste.

Nötige Reparaturen wurden vor ein paar Wochen erledigt, doch auf die seit zwei Jahrzehnten geplante und 2018 von der Waliser Regionalregierung in Aussicht gestellte dritte Querung zur Entlastung müssen die Anwohner dauerhaft verzichten.

Denn die Labour-Regierung hat sich der Empfehlung einer Expertenkommission angeschlossen und eine radikale Kehrtwende beim Straßenbau vollzogen. 59 Vorhaben wurden dabei auf ihre Umweltfolgen untersucht. Die geplante Brücke gehört zu 32 Projekten, die komplett eingestampft werden. Nur 17 werden wie geplant fortgesetzt, die übrigen noch einmal überdacht.

Die radikale Strategie soll helfen, die ehrgeizigen Emissionsziele des Landes für den Verkehrsbereich zu erreichen. 2021 hat die Regierung festgelegt, dass die Kilometer, die jeder Einwohner im Schnitt im Auto zurücklegt, bis 2030 um zehn Prozent unter den Wert von 2019 fallen sollen. Ausgebaut werden soll gleichzeitig die Nutzung von Bussen, Zügen und Fahrrädern. Der Umstieg auf Elektrofahrzeuge allein sei nicht genug, um das Ziel zu erreichen, lautete das Urteil der Kommission.

Großbritanniens Regionen können in einer Reihe von Politikbereichen seit rund drei Jahrzehnten eigene Regeln setzen. Schottland hat sich ein noch ambitionierteres Ziel gesetzt und plant, die Verkehrskilometer im gleichen Zeitraum um 20 Prozent zu reduzieren. England hat kein vergleichbares Ziel. Auf Verkehr und Transport entfallen in Großbritannien fast ein Viertel der Emissionen.

Wales hat sich mit dem Vorstoß für einen radikal anderen Weg entschieden als die deutsche Verkehrspolitik. Der Ansatz der vergangenen 70 Jahre funktioniere einfach nicht, sagte Lee Waters, stellvertretender Minister für Klimafragen im Senedd, dem Parlament in Cardiff, bei der Vorstellung der Strategie.

Die Kommission verweise darauf, dass der Bau einer Ortsumgehung zur Entlastung von Verkehrsstörungen stattdessen zu zusätzlichem Verkehr führe, der unwiderruflich zum Ruf nach weiteren Fahrbahnen, besser ausgebauten Kreuzungen und noch mehr Straßen führe. „Und so drehen wir uns im Kreis, stoßen dabei immer mehr Kohlendioxid aus, und wir werden nicht zu einem Nettoausstoß von null gelangen, wenn wir nicht aufhören, immer wieder das Gleiche zu tun.“ Einfach werde der Schritt aber nicht, warnte er.

Neue Straßen in Wales dürfen Verkehr nicht erhöhen

Straßen sollen in Wales auch künftig gebaut werden, sie müssen allerdings strikten Regeln genügen. Vier Zielsetzungen gelten demnach für sinnvoll: um Verkehr auf andere Transportmittel wie Fahrräder oder Busse zu verlagern, um Verkehrsopfer zu reduzieren und die Sicherheit zu verbessern, um vorhandene Strecken anzupassen an die Folgen der Klimaveränderung und um den Zugang zu ermöglichen zu neuen städtebaulichen Vorhaben, innerhalb derer nachhaltige Verkehrslösungen bevorzugt werden sollen.

Die Kapazität für den Individualverkehr sollen neue oder ausgebaute Straßen dagegen ausdrücklich nicht erhöhen. Auch Projekte für eine höhere Verkehrsgeschwindigkeit sind tabu. Eine dritte Brücke über die Menai-Straße hätte dagegen laut der Vorhersagen den Verkehr in den kommenden fünfzehn Jahren um rund zehn Prozent erhöht. Zusätzlich hätte sie alten Waldbestand gefährdet. Entsprechend fiel sie dem Rotstift zum Opfer.

Wenig überraschend, dass die neuen strengen Regeln auf erheblichen Widerstand stoßen. Als „rückwärtsgewandte Anti-Autofahrer-Agenda“ kritisierte sie Natasha Asghar, die bei den oppositionellen Konservativen für Verkehrsfragen zuständig ist.

Rhun ap Iorwerth, Abgeordneter im Senedd für die nationalistische Partei Plaid Cymru für den vom Brückenstop betroffenen Wahlkreis Anglesey, zeigte sich „erschüttert“ über die Entscheidung. Letztlich würde der fehlende Ausbau die Region weiter wirtschaftlich benachteiligen.

Nicht anders sieht es in anderen betroffenen Regionen aus, die sich sorgen, dass wirtschaftliche Entwicklung und Tourismus leiden werden. Und selbst Abgeordnete der regierenden Labour-Partei beklagten, dass die neuen Vorgaben nicht ausführlicher öffentlich diskutiert worden seien, bevor sie durchgesetzt wurden.

Nach einer raschen Umkehr sieht es dennoch nicht aus. Dabei dürften nicht zuletzt finanzielle Gründe eine Rolle spielen. Die Finanzmittel für den Straßenbau werden in London bewilligt, doch im Haushalt wurde dafür kein Geld genehmigt. Real steht damit wegen der hohen Inflation nach Angaben der walisischen Regierung im kommenden Jahr acht Prozent weniger zur Verfügung als geplant.

Für die Menai-Brücke wird unterdessen über Alternativen nachgedacht. Eine Option sieht den Ausbau der vorhandenen Infrastruktur durch separate Spuren für Radfahrer und Fußgänger vor.

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