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Irlands historische Chance

Irland ist nicht gerade als Autoland bekannt. Doch mit dem Umbruch zur E-Mobilität spielt die Vergangenheit keine große Rolle: Gute Unis und Tech-Konzerne haben Irland zu einem Zentrum von Software- und Batterieentwicklung gemacht. Und der Standort punktet mit weiteren Vorteilen.

irlands historische chance

Die irische Stadt Limerick: An der dortigen Universität findet innovative Forschung statt Getty Images/mikroman6

Grüne Wiesen, Felder, Schafe auf hügeligen Weiden – nach landwirtschaftlichem Idyll sieht das Örtchen Tuam eine halbe Stunde nördlich von Galway im Westen Irlands auf den ersten Blick aus. Doch die 10.000-Einwohner-Stadt ist ein Zentrum für Mobilitätstechnologie.

Hier tüftelt der französische Autozulieferer Valeo an neuen Kameras, Radar- und Lidarsystemen und den dazugehörigen Softwaresystemen, um Fahrzeuge mit immer ausgefeilteren Sensorsystemen auszustatten.

Zu den Projekten, an denen hier gearbeitet wird, gehört unter anderem ein voll automatisiertes Park-System, ohne Fahrer findet das Auto dabei alleine einen Parkplatz, in Kooperation mit BMW. 1000 Angestellte hat der Standort, über die Hälfte davon Ingenieure und Informatiker, die in der Forschung tätig sind.

Die Entwicklung von automobiler Sicherheitstechnik in Tuam reicht 40 Jahre zurück, 2007 wurde das Unternehmen von Valeo übernommen. „Der Westen Irlands ist traditionell kein Automobil-Hotspot, doch wir zeigen, dass man mit der richtigen Technologie und den richtigen Menschen überall innovativ sein kann“, sagt Peter Reilly, der in Tuam für Driving-Vision-Systeme zuständig ist.

Ganz Irland verfüge über keinerlei automobile Tradition, gibt auch Ian O’Hara zu, zuständig für Technik und nachhaltige Wirtschaft bei der Investitionsförderagentur IDA. Umso besser positioniert ist das Land in den Bereichen Technologie, Informatik oder Softwareentwicklung – Bereiche, die auch für die Automobilbranche seit Jahren immer wichtiger werden.

„Wir werden es vermutlich nie schaffen, einen Autobauer zur Produktion ins Land zu holen“, sagt O’Hara. „Aber im direkten Umfeld gibt es viel für uns zu tun.“

Auch Bosch ist vor Ort

In den vergangenen Jahren hat Irland viel Kapazität rund um das Thema Mobilität aufgebaut. Zum Beispiel beim US-Halbleiterkonzern Analog Devices. Der unterhält in Limerick einen Forschungs- und Produktionsstandort, der sich unter anderem intensiv mit Autobatterien und Ladesystemen beschäftigt.

Das hier entwickelte System eines kabellosen Batteriepakets vereinfacht die Montage und reduziert die dafür nötige Zeit auf sechseinhalb Minuten, weniger als ein Drittel des traditionellen Systems mit Kabelgeschirr, das wegen der hohen Spannung auch noch aufwendige Sicherheitsvorkehrungen braucht.

Auf der anderen Seite der Stadt hat Bosch vor zwei Jahren ein Forschungszentrum eröffnet, mit den Schwerpunkten Auto-Elektronik und -Halbleiter. Im benachbarten Shannon arbeiten 300 Ingenieure und Informatiker an Sicherheits- und Unterhaltungssystemen für Jaguar-Landrover.

Und der Fokus auf Mobilität und Auto soll noch deutlich gestärkt werden. Barry Lunn, Gründer und Chef von Provizio, tüftelt im Future Mobility Campus, einem von der Regierung finanzierten Forschungszentrum unweit des Flughafens Shannon, an einem Sicherheitssystem auf Basis von Radar, das autonomes Fahren unterstützt.

Die Technologie ist deutlich günstiger als bisher genutzte Sensoren, zudem funktioniert sie bei jedem Wetter. Die dazugehörige Software schafft nicht nur eine hohe Auflösung, unterstützt durch künstliche Intelligenz kann sie auch vor Gefahrenquellen warnen.

„Diese Plattform wird die Sicherheit im Auto revolutionieren“, ist Lunn überzeugt. Mit Partnern aus der Branche arbeitet er jetzt daran, das System binnen zwei Jahren tauglich zu machen für eine Serienfertigung in hohen Stückzahlen.

Bis 2030 vier von fünf Autos komplett internetfähig

Die Herausforderungen und der rasante Wandel in der Autoindustrie werden meist an der Antriebstechnik festgemacht, dem Umstieg vom Verbrennungsmotor auf Batterieelektrik. Doch einschneidende Veränderungen folgen auch aus der immer weiter zunehmenden Vernetzung der Automobile.

Sicherheitsfeatures wie automatisches Bremsen, anpassungsfähige Geschwindigkeitsregelung oder automatisches Parken werden heute schon vielfach angeboten. Je mehr Fahrzeuge autonom fahren, desto mehr werden weitere Angebote interessant: Soundsysteme und Bildschirme zur Unterhaltung, aber auch weitere Fortschritte bei der Navigation oder der Sprachsteuerung.

Die Analysten der Schweizer UBS gehen davon aus, dass bis 2030 vier von fünf Autos komplett internetfähig sein werden. Die Systeme können damit regelmäßig aktualisiert werden. Fahrzeughalter können sich zusätzliche Features per Update dazu kaufen.

Für die Autobranche bedeutet dies neue Denkansätze: Statt wie in der Vergangenheit in Modellzyklen von sechs bis acht Jahren zu denken, werden über die Software-Lösungen Neuerungen im Monatsrhythmus möglich.

Den immer größeren Fokus auf Software in der Autobranche betont auch Markus Heyn, Geschäftsführer bei Bosch. „Software verändert nicht nur, wie wir Autos in Zukunft nutzen und erleben. Sie verändert auch, wie Autos entwickelt werden.“ Bis zum Ende des Jahrzehnts dürfte Software rund ein Drittel der Auto-Entwicklung ausmachen, erwartet Heyn.

Deutsche Hersteller spielen bei Software-Fragen rund um die Mobilität nicht unbedingt ganz vorn mit. Die Neuausrichtung bedeutet nicht nur, dass traditionelle Hersteller sich anpassen und umdenken müssen.

Neue Chancen für den Tech-Standort Irland

Ihnen erwächst auch Wettbewerb durch neue Anbieter, die von Anfang an auf Vernetzung und Entertainment im Fahrzeug setzen. In China machen das junge Autokonzerne wie Nio, Xpeng oder Li Auto vor. Daneben entstehen in der Lieferkette Chancen, für junge Konzerne genau wie für etablierte aus Branchen wie Halbleiter- oder Softwareindustrie.

Hier sieht sich Irland gut positioniert. Das Land ist seit Jahren ein wichtiger Standort für Tech-Konzerne, vor allem aus den USA. Die niedrigen Unternehmenssteuern gelten als ein Anreiz für eine Ansiedlung.

Hinzu kommt der Vorteil der englischen Sprache und traditionell gute Verbindungen zwischen der Insel und den Vereinigten Staaten. Laut Daten der OECD hat das Land außerdem die höchste Produktivität innerhalb des Clubs der wohlhabenden Industrienationen.

Amazon, Google, Facebook, Intel sind nur einige der Technologie-Riesen, die das Land zu einem der wichtigsten Standorte in Europa gemacht haben.

„Aus diesen Unternehmen wechseln immer wieder Experten zu uns“, sagt John Cormican, Geschäftsführer Fahrzeugtechnik bei Jaguar-Landrover und unter anderem zuständig für das Software-Engineering-Zentrum des Konzerns in Shannon. Nicht zuletzt während der Entlassungswelle der großen Technologieanbieter in den vergangenen Monaten konnten irische Unternehmen profitieren.

Auch durch den Brexit ergibt sich auf dem Arbeitsmarkt ein Vorteil, sagt Mike Morrissey, Geschäftsführer bei Analog Devices. Junge Software-Experten und Ingenieure aus der Europäischen Union können dank der Freizügigkeit hier arbeiten und gleichzeitig ihre Englisch-Kenntnisse verbessern.

Arbeitsmarkt ohne Nachwuchs-Sorgen

„Das lockt schon einige.“ Durchaus auch von außerhalb der Europäischen Union: Ende 2022 kamen fast ein Fünftel der Arbeitskräfte in Irland aus dem Ausland.

Anders als beispielsweise Deutschland hat Irland auch kein Nachwuchsproblem. Das Land zählt als jüngstes der EU, ein Drittel der rund fünf Millionen Iren ist unter 25 Jahre alt, die Hälfte der Bevölkerung noch keine 34 Jahre.

In den kommenden Jahren strebt damit weiter viel Nachwuchs auf den Arbeitsmarkt – und er ist gut ausgebildet. 61,7 Prozent der 25- bis 34-Jährigen haben einen Hochschulabschluss. Im EU-Durchschnitt sind es 41,2 Prozent, der deutsche Wert liegt darunter.

Spitzenreiter in der EU sind die Iren auch bei naturwissenschaftlichen und technischen Qualifikationen. Vier Prozent der Unter-30-Jährigen haben einen Abschluss in einem der MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, das sind fast doppelt so viele wie im EU-Durchschnitt.

Leistungsfähigere Batterien sind das Forschungsfeld von Tadhg Kennedy, Dozent für Umwelttechnologie an der Fakultät für Chemie der Universität Limerick. An über 150 Teststationen prüft er mit Studenten neue Materialien und Komponenten, um unter anderem die Grafit-Anode einer Lithium-Ionen-Batterie zu ersetzen.

Silizium und Germanium seien zwei Materialien, die vielversprechend erscheinen, sagt er. Im Verbund mit 15 Forschungseinrichtungen aus ganz Europa arbeitet Kennedy mit seinen Kollegen federführend auch an einem Projekt, das Fahrzeugbatterien deutlich leistungsfähiger und günstiger machen soll.

Zukunftsweisende Studiengänge

Am LERO-Institut, einer Einrichtung der Universität Limerick mit Fokus Software-Forschung, arbeiten Experten unter anderem an leistungsfähigeren Sensoren und Algorithmen, um das autonome Fahren voranzubringen. „Aber diese Technologien haben oft viele Einsatzmöglichkeiten“, sagt Joe Gibbs, Geschäftsführer des Instituts. Landwirtschaftsmaschinen und Logistik sind zwei solche Bereiche.

Eng arbeiten die Universitäten regelmäßig mit Unternehmen zusammen, um neue Studiengänge zu entwickeln. Angeregt durch das Interesse einer Handvoll Firmen bietet die Uni Limerick neu einen Abschluss in künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen an, zu dem auch ein achtmonatiges Praktikum bei einem der Konzerne gehört. „Da versuchen wir eine enge Kooperation zwischen Hochschulen, Unternehmen und Regierung“, sagt O’Hara.

Zunehmend knüpft das Land damit doch an eine gewisse automobile Tradition an. Denn vor über 70 Jahren war die Insel der erste Standort außerhalb Deutschlands, an dem ein VW Käfer zusammengebaut wurde. Das allererste dieser Modelle, zur Qualitätsinspektion nach Deutschland zurückgeschickt, steht bis heute in Wolfsburg.

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