- Möglichst schnell im Golf
- Ohne hochpräzise Karten läuft es nicht
- Das Ziel lautet hoch automatisiertes Fahren
Einfach mal loslassen: automatisiertes Fahren von Bosch und Cariad
Der elektrische Kleinbus von Volkswagen bremst ab, biegt vollautomatisch stadtauswärts auf die Heilbronner Straße in Stuttgart ein und hält an der nächsten Ampel. Als das Signal auf Grün schaltet, fährt der ID Buzz selbständig los, schlägt nach wenigen Metern einen Spurwechsel vor, den der Fahrer mit einem Tippen des Blinker-Hebels bestätigt. Bis dahin haben die Hände ruhig auf den Oberschenkeln gelegen. Das Ziel ist die Autobahn 81 Richtung Süden. Auf einer lang gezogenen Linkskurve bewegt sich das Lenkrad, ohne dass der Fahrer es berührt, während das Fahrzeug beschleunigt.
Es ist eine Software, die den Bus durch den Nachmittagsverkehr der baden-württembergischen Landeshauptstadt steuert. Der „Driving Pilot“ ermöglicht automatisiertes Fahren auf dem Level 2 plus – bei dem der Fahrer noch die volle Verantwortung trägt, das Fahrzeug aber selbständig agiert.
Möglichst schnell im Golf
Geplant ist, dass Volkswagen die Software in den Fahrzeugen des gesamten VW-Konzerns nutzt und dass Bosch sie an Autohersteller in aller Welt verkauft. Der VW-Konzern will sie schon von 2025 an in bestimmten Premiumfahrzeugen einsetzen. Möglichst schnell sollen dann auch Kompaktmodelle wie Golf, Tiguan oder die kleineren E-Fahrzeuge folgen.
Auch Bosch hat nach eigenen Angaben schon mehrere Interessenten. „Die von uns entwickelten Systeme werden den Endkunden voraussichtlich einen vierstelligen Betrag kosten, der hoffentlich klein sein wird“, sagt Heyn zu den Kosten für das neue System.
Entstanden ist das System in der Automated Driving Alliance (ADA), die die beiden Partner vor gut zwei Jahren gegründet haben. Jeweils 750 Software-Entwickler haben Bosch und Cariad für die Entwicklung des „Driving Pilot“ abgestellt. An 20 Standorten arbeiten „Teams beider Unternehmen zusammen an assistierten und automatisierten Fahrfunktionen für Autobahn, Landstraße und Stadtverkehr“, wie ein Cariad-Sprecher die Partnerschaft beschreibt.
„40.000 Stunden Fahrdaten bekommen wir jeden Monat rein“, erläutert Aufzug. „Die Geschwindigkeit ist das Besondere: Die Daten sind nach zwei Tagen im Fahrzeug – und wir haben dann nach zwei Stunden erste Rückmeldungen.“ So lernt die Software, mit Tausenden und Abertausenden einzelner Bildsequenzen ein Wahlplakat am Fahrbahnrand von einem echten Menschen zu unterscheiden.
Ohne hochpräzise Karten läuft es nicht
Damit die Software funktioniert, sind zudem hochpräzise Karten nötig. Die Karten normaler Navigationssysteme sind für den „Driving Pilot“ viel zu ungenau, denn die Software muss nicht nur die richtige Straße finden, sondern genau wissen, welche Spur sie wählen muss, wie schnell sie in eine Kurve fahren darf und wo bei einer Ampel genau zu halten ist.
Für diese Karten sammelt eine zweite Flotte Daten – vor allem auf Radarbasis: Es sind die Golf-8-Modelle des Volkswagen-Konzerns. Mit Millionen und Abermillionen von Radarpunkten hat die ADA schon jetzt ein hochpräzises Kartennetz von ganz Europa geschaffen. Wenn der „Driving Pilot“ nächstes Jahr im Markt ist, sollen alle mit dem System ausgestatteten Autos Daten sammeln und sowohl die Fahrfunktionen als auch die Karten optimieren.
Der „Driving Pilot“ besteht aus der Bild-Wahrnehmung, Datenfusion, dem Schwarm-Dienst und den eigentlichen Fahrfunktionen, dazu kommen ein Software-Werkzeugset und die sogenannte Middleware, die die Kommunikation zwischen Hardware und Software sicherstellt. Bosch verkauft sowohl das Gesamtpaket als auch die einzelnen Komponenten. Im Idealfall ergänzt um fünf Kameras und sechs Radare, die das System braucht.
Das Ziel lautet hoch automatisiertes Fahren
Fernziel sind, da sind sich Heyn und seine Ingenieure einig, Fahrsysteme auf Level 3. Bei diesem hoch automatisierten Fahren ist es erlaubt, das Lenkrad ganz loszulassen, um sich umzudrehen, einen Film anzusehen oder ein Buch zu lesen. Kommt ein Signal vom Computer, muss der Fahrer allerdings sofort übernehmen können.
Technisch ist das zum Teil schon möglich, aus Sicherheitsgründen muss es allerdings jede Komponente zweimal im Fahrzeug geben, damit bei Ausfällen ein Ersatzbauteil einspringen kann, was die Systeme teuer macht. „Bei Level-3-Systemen ist die komplette Redundanz der Kostentreiber. Sprich, das System ist unter Umständen doppelt so teuer wie ein Level-2-System, ohne dass es in den Augen der Kunden so viel mehr bringt“, erläutert Heyn.
Bislang haben Hersteller wie Mercedes oder BMW erste Anwendungen dieser Art im Markt, deren Einsatz aber zumeist eingeschränkt ist. So dürfen sie nur auf bestimmten Strecken auf der Autobahn, mit bestimmten Geschwindigkeiten und bei bestimmten Wetterbedingungen genutzt werden.
Im Jahr 2017 hat Bosch schon einmal einen Versuch gestartet, Systeme für hoch automatisiertes Fahren auf die Straße zu bringen – und zwar in einer Entwicklungskooperation mit Mercedes. Es stellte sich allerdings heraus, dass das Ziel zu ehrgeizig und die Herangehensweise nicht zielführend war. Damals versuchten die Partner in einem einzigen Entwicklungsschritt, das große Ziel zu erreichen. Nun soll es anders laufen: mit vielen kleinen Schritten und einer kontinuierlichen Optimierung von Level-2-Systemen.
„Mit unserer graduellen Entwicklung nähern wir uns auch bereits Level-3-Systemen an“, sagt Heyn. „Aber die Bezahlbarkeit bleibt eine Herausforderung. Die Zusatzkosten für die komplette Redundanz von Level 3 an werden auch in Zukunft bleiben – und da muss uns in der Industrie noch einiges einfallen.“
Auf der Rückfahrt hält der ID Buzz erneut an einer Ampel. Der „Driving Pilot“ versieht auf dem Monitor neben dem Lenkrad Fußgänger als besonders verwundbare Verkehrsteilnehmer mit einer lila Kennzeichnung. Und auch ein Motorradfahrer, der den Kleinbus auf der Bundesstraße 295 überholt, wird in dieser Farbe angezeigt.