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Verkehrsexperte moniert Größenwahn der Autobauer: Das ist nur die halbe Wahrheit

verkehrsexperte moniert größenwahn der autobauer: das ist nur die halbe wahrheit

Fahrzeuge wie der GMC Sierra EV gehören zu den Extrembeispielen für den „Größenwahn“ vieler Autobauer.

Wer das Gefühl hat, dass immer weniger kleine Autos auf den Straßen unterwegs sind und dass auch die kleinen Autos – siehe VW Golf – immer weiter wachsen, bildet sich das nicht ein: Im Jahr 2020 lag das durchschnittliche Gewicht eines Neuwagens in der EU bei 1,457 Tonnen. Das waren 3 Prozent mehr als noch 2019 – und 15 Prozent mehr als im Jahr 2001, berichtet der britische Nachrichtendienst BBC. Wie das Nachrichtenportal The Guardian meldet, sind Neuwagen in der EU und im Vereinigten Königreich zuletzt im Durchschnitt alle zwei Jahre um einen Zentimeter breiter geworden. Die Entwicklung wird vor allem von einer zunehmenden Zahl an SUV-Modellen getrieben, meint James Nix, Analyst bei der Non-Profit-Organisation Transport and Environment (T&E).

Teilweise werden die Fahrzeuge inzwischen so groß, dass sie kaum noch in typische Parklücken oder durch die historisch-engen Gassen zahlreicher europäischer Städte passen, heißt es bei The Guardian weiter. Das ist aber nicht das einzige Problem mit den immer schwerer werdenden Fahrzeugen, erklärt der Mobilitätsforscher Helmut Holzapfel in einem aktuellen Gespräch mit dem Deutschlandfunk. „Es belastet alles“, so Holzapfel über das steigende Durchschnittsgewicht durchschnittlicher Fahrzeuge: Verkehrssicherheit, Klima und Umwelt sowie die Straßen. Aber: Woher rührt die Entwicklung überhaupt?

„Verfettung der Mobilität“: Real, aber kein rein deutsches Phänomen

Holzapfel, der an der Uni Kassel als Professor für Mobilitätsverhalten und Mobilitätskultur tätig ist, führt im Gespräch mit dem Deutschlandfunk mehrere Gründe an. Der Trend sei kein rein deutscher Trend, stattdessen lasse sich die „Verfettung der Mobilität“ in so gut wie allen Fahrzeugmärkten rund um den Globus beobachten. So sei die Gewichtszunahme auf steigende Sicherheitswünsche der Verbraucher und strengere Sicherheitsvorgaben der Gesetzgeber zurückzuführen – größere Knautschzonen und zusätzliche Sicherheitstechnologien bedeuten mehr Gewicht. Auch die Elektromobilität sei ein Treiber dieser Entwicklung: E-Auto-Batterien sind deutlich schwerer als ein gut gefüllter Benzintank.

Autokäufer fragen außerdem immer häufiger nach SUV- und Kompakt-SUV-Modellen, wie auch die Zulassungszahlen zeigen. 2023 erreichte der SUV-Anteil an den Fahrzeugneuzulassungen in Deutschland laut dem Datenportal Statista einen neuen Rekordwert. Unklar bleibt aber, ob das Angebot dabei der Nachfrage folgt oder ob es doch eher umgekehrt ist – eine Art Henne-Ei-Problem also.

Holzapfel zufolge sind die immer größeren Pkw vor allem im Sinne der Hersteller: Inzwischen verfügen die meisten Neuwagen auch in den untersten Ausstattungslinien über zahlreiche Sicherheits- und Komfort-Extras – bei größeren Fahrzeugen lassen sich höhere Preise jedoch besser rechtfertigen, wenn die Ausstattung ansonsten vergleichbar oder identisch ist. Im Gegensatz dazu erweist es sich als notorisch schwierig, Kleinwagen ähnlich profitabel herzustellen und zu verkaufen. Das gilt für elektrische Kleinwagen umso mehr.

Kurios: Autobauer dürfen sich bei schwereren Fahrzeugen über weniger strenge CO₂-Regularien freuen. Auch das könnte einer der Gründe für das steigende Durchschnittsgewicht von Fahrzeugen sein. Bei der Berechnung der CO₂-Grenzwerte für neue Fahrzeugmodelle kommt eine Formel zum Einsatz, die auch das Gewicht jedes Modells beziehungsweise jeder Modellausstattung berücksichtigt. Der CO₂-Grenzwert wird anhand des durchschnittlichen Fahrzeuggewichts der Modellpalette auf die einzelnen Hersteller aufgeteilt. Wenn nun das durchschnittliche Fahrzeuggewicht eines der Automobilbauer über dem EU-Durchschnitt liegt, wie es beispielsweise bei Mercedes-Benz der Fall ist, fällt auch der Grenzwert des Herstellers entsprechend höher aus. Wer schwerere Autos baut, darf sich bei den CO₂-Emissionen seiner Fahrzeugflotte also auch mehr erlauben.

Machen SUVs den Verkehr unsicherer?

Dass Autos immer schwerer werden, belastet nicht nur die Geldbeutel der Käufer sowie die Umwelt durch höhere CO₂-Ausstöße, sondern auch die lokale Luftqualität durch stärkeren Reifen- und Bremsenabrieb, zwei der Hauptfaktoren für die Feinstaubbelastung in Städten. Für die stärkere Abnutzung der Straßen kommt letztlich der Steuerzahler auf.

Verkehrsforscher Holzapfel verweist gegenüber dem Deutschlandfunk außerdem darauf, dass die wahrgenommen gesteigerte Sicherheit ein Trugschluss ist: Bei einem Unfall mit einem kleineren Fahrzeug sei man in einem größeren, massereicheren Fahrzeug freilich sicherer. Der Effekt verpufft jedoch, wenn zahlreiche andere Verkehrsteilnehmer in genauso großen Fahrzeugen unterwegs sind. Zudem gelten SUVs gerade für Fußgänger, Rad- und Motorradfahrer als gefährlicher, weil ihr Kühlergrill oft bis auf Brust- oder Kopfhöhe reicht.

Holzapfels Behauptungen, dass größere Autos den Verkehr insgesamt unsicherer machen, müssen allerdings differenziert betrachtet werden: Die Zahl der Toten im Straßenverkehr ist in der Europäischen Union „seit Jahrzehnten stark rückläufig“, meldet das Statistische Bundesamt. Tatsächlich zeigt der Trend hinsichtlich der Verkehrstoten in so gut wie allen Industrieländern seit Jahren nach unten, mit Ausnahme der USA, wo es laut einem Bericht der New York Times einen merklichen Anstieg gibt. Gleichzeitig zeigen Unfalldaten aus Belgien aus den Jahren 2017 bis 2021, über die der Guardian berichtet, dass eine Erhöhung der Fahrzeugfront um 10 Zentimeter das Sterberisiko um 30 Prozent erhöht, wenn ein Auto mit einem Fußgänger oder Radfahrer zusammenstößt.

Vergleiche über die vergangenen Jahre hinweg gestalten sich aufgrund der Corona-Pandemie schwierig. Laut Statistischem Bundesamt sind in den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 in Deutschland 174.000 Menschen bei Straßenverkehrsunfällen verletzt worden. Das waren knapp 2.100 Personen oder 1 Prozent mehr als im ersten Halbjahr 2023. Die Zahl der Verkehrstoten sank hingegen um 11 Personen auf 1.292. Weiter heißt es dort: Auf die Bevölkerungszahl bezogen, starben im ersten Halbjahr 2024 in Deutschland durchschnittlich 15 Menschen je 1 Million Einwohnerinnen und Einwohner im Straßenverkehr. Der Wert ist gegenüber dem Vergleichszeitraum 2022 und 2023 unverändert.

In den ersten fünf Monaten 2024 stieg allerdings die Zahl der Menschen, die auf Krafträdern ums Leben kamen, um 8 Personen (179 Tote) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die Zahl der getöteten Pkw-Insassen sank hingegen um 16 Personen (442 Personen), die der getöteten Fußgängerinnen und Fußgänger um 5 Personen auf 153 Personen. Auch 136 Menschen, die mit dem Fahrrad unterwegs waren, wurden im ersten Halbjahr 2024 im Straßenverkehr getötet; das waren vier weniger als im Vorjahreszeitraum.

Ähnlich heterogen sind die Zahlen im europäischen Ausland: Die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Personen sank in einigen Ländern der Europäischen Union im Jahr 2023 verglichen mit 2022 leicht. In anderen Ländern stieg diese Zahl hingegen leicht, wie eine Grafik des Datendienstleisters Statista zeigt.

Einige Städte und Länder greifen bei Pkw-Übergewicht bereits hart durch

Giulio Mattioli, Verkehrsforscher an der Technischen Universität Dortmund, erklärt gegenüber The Guardian: „In den Städten wird zu viel Platz für Autos zur Verfügung gestellt – einschließlich kostenloser Parkplätze auf Kosten der Steuerzahler, für die es kaum eine Rechtfertigung gibt.“ Die Entwicklung könnte sich Mattioli zufolge sogar selbst verstärken, wenn der Gesetzgeber nicht auf die ein oder andere Art eingreift: „Die Tatsache, dass die Autos immer größer werden, wird die Situation wahrscheinlich noch verschärfen“, so der Experte. „Es könnte auch dazu führen, dass Politiker und Planer die Standardmaße von Parkplätzen erhöhen, was zu einem Teufelskreis von immer größeren Autos führen könnte.“

Verkehrsforscher Holzapfel ist ebenfalls der Ansicht, dass Staaten und Sicherheitsbehörden eingreifen müssen, um der Entwicklung der immer größer und schwerer werdenden Fahrzeuge Einhalt zu gebieten. Das Fahrzeuggewicht könne demnach etwa stärker besteuert werden. Prüforganisationen wie die NCAP, die die Sicherheitsbewertungen von neuen Fahrzeugen durchführen, sollten Holzapfel zufolge ebenfalls das Gewicht von Fahrzeugen berücksichtigen. Fahrzeuge, die ein bestimmtes Gewicht überschreiten, könnten demnach Abzüge bei der Sicherheitsbewertung erhalten. Autoversicherer würden das dann wiederum bei den Versicherungsprämien berücksichtigen, was zu steigenden Versicherungsbeiträgen und sinkender Beliebtheit führen könnte. Die Deutsche Umwelthilfe forderte zudem schon 2021 eine Revision der EU-weiten CO₂-Standards für Pkw – dort forderte die Organisation auch die Abschaffung von „Vergünstigungen für schwere Fahrzeuge über einen Gewichtsbonus“.

Die ersten Städte, Regionen und Länder treffen bereits Maßnahmen, um den Hang zum Übergewicht bei neuen Pkw einzudämmen: Im US-Bundesstaat Kalifornien diskutiert man seit vergangenem Jahr über eine gewichtsbasierte Pkw-Steuer. In Frankreich zahlen Autofahrer seit Anfang dieses Jahres bereits höhere Steuern für schwerere Fahrzeuge. Die Bewohner der Hauptstadt Paris stimmten zudem kürzlich darüber ab, ob größere Autos höhere Parkgebühren zahlen sollen. Dabei ist eine Verdreifachung der Parkgebühren für SUVs herausgekommen. Diese gilt allerdings nicht für Anwohnerinnen und Anwohner, sondern vor allem für Touristen. Auch in einzelnen Städten und Kommunen in Deutschland kostet SUV-Parken bereits mehr, anderenorts werden entsprechende Maßnahmen diskutiert. In Tübingen gelten schon seit 2022 gestaffelte Gebühren für den Bewohnerparkausweis, die sich an der Antriebsform und am Fahrzeuggewicht bemessen.

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