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„Lärmfolter“ und hinterhältige Revierkämpfe: Meine Abrechnung mit der Scheinwelt Dorf

„lärmfolter“ und hinterhältige revierkämpfe: meine abrechnung mit der scheinwelt dorf

Der Landwirt, der womöglich ein paar Dutzend Bauplätze verkauft hat und allein dadurch gestandener Millionär ist, borgt sich lieber altes Gerät und macht Lärm.

Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.

Da will die Bauministerin also Menschen aufs Land schicken, zur Linderung der Wohnungsnot. Das haben Regime, die ihre Untertanen nicht besonders mochten, auch früher schon gemacht, die Landverschickung. Obwohl ich mir einbilde, nicht an Masochismus, der Freude am eigenen Schmerz, zu leiden, bin ich aufs Land gezogen. Freiwillig. Aus dem Hochhaus in der Weltstadt ins Penthouse in der Kleinstadt ins Holzhaus im Dorf. Ein Abstieg in allen Schattierungen. Hier meine Abrechnung mit der Scheinwelt Dorf.

In Metropolen gibt es Gesetze, welche die Harmonie regeln. Wer baut, muss das in einem gewissen, recht engen, Zeitraum abgeschlossen haben. Weil jeder weiß, dass der Nachbar nichts davon hat, wenn man Steine sägt, außer lebensverkürzenden Stress. Lärmfolter war die brutalste Art des Tötens bei den alten Chinesen. Dort wo ich heute wohne, leben Experten auf diesem Gebiet, die auch den grausamsten Mandarin blass scheinen lassen.

Der Tatort: Neubaugebiet, Dorf. Jeder, der hier etwas kauft, auch wenn er dazu das nötige Geld nicht hat oder selbiges im Überfluss, kauft nicht seine Parzelle oder sein Haus, sondern die Welt. Bedeutet: auch der Landwirt, der womöglich ein paar Dutzend Bauplätze verkauft hat und allein dadurch gestandener Millionär ist, denkt gar nicht daran, seinen Reichtum mit der Gesellschaft zu teilen, indem er seinen Bau einen Menschen machen lässt, der bauen kann. Sein Egoismus erlaubt ihm, sich altes Gerät zu borgen und damit in den Fels zu bohren.

Natürlich nie an einem Stück, konzentriert und zeitlich eingegrenzt. Sie können ihm nicht durch die Analyse seiner Verhaltensmuster entkommen. Gerade dann, wenn Sie meinen, Mittag um eins wäre sicher, Sie führen gerade die Suppe zum Mund, wackelt Ihr Haus, die Gläser in der Vitrine klirren und die Suppe ist auf dem Tisch. Was nicht besonders schlimm ist. Nach so einer Lärmattacke wollen Sie gar nicht mehr essen. Ihre Gedanken kreisen eher um mittelalterliche Racherituale.

„lärmfolter“ und hinterhältige revierkämpfe: meine abrechnung mit der scheinwelt dorf

Der Mensch will aus seiner Verhaltensbiologie heraus sein Revier erkämpfen.” title=”Der Mensch will aus seiner Verhaltensbiologie heraus sein Revier erkämpfen.” data-portal-copyright=”Paulus Ponizak/Berliner Zeitung”/>

Das geht so zwei Jahre und Sie meinen, alles wäre gut, wenn der Rohbau steht. Hässlich, einfältig, selbst gemacht eben, ja, man siehts. Aber fertig – doch nein: Nach dem Rohbau ist vor dem Feinschliff! Also: Steine sägen nach Feierabend! Der Lärmfetischist kann hier seine Erfüllung finden. Natürlich kann der reiche Mann auch das nicht wirklich effektiv. Will er ja auch gar nicht.

Was er will, beschreibt Konrad Lorenz in „Aggression, das sogenannte Böse“. Der Mensch will aus seiner Verhaltensbiologie heraus sein Revier erkämpfen. So, wie der Schäferhund erst mal losbellt, wenn er in ein neues Heim kommt und der Pinscher ebenso, machts so mancher Mensch, der nicht unter Konfuzius aufgewachsen ist und jede Sekunde darüber nachdenkt, welche Auswirkungen denn nun sein Handeln auf die Welt hat.

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Steine sägen nach Feierabend! Der Lärmfetischist kann hier seine Erfüllung finden.

Nur ist Bellen mitnichten so laut wie Stein sägen. Vor allem aber wird der Steinsäger davon nicht heiser. Und wer glaubt, mit Steinsägen sei der Olymp wirklich beschritten, irrt abermals. Weil Welt-Besitzer im Billigfertighaus nicht wie normal sozialisierte Menschen rasch fertig machen, damit fertig ist, lässt man erst einmal die Umwelt ein paar Jahre in eine Grube starren und auf ein paar Dreckhügel. Man will dem, der fertig ist, damit ein bisschen den Mittelfinger zeigen, via Gesamtbild. Wer zuerst fertig ist, hat verloren. Vor allem aber hält man sich die Tür auf für langanhaltenden Terror.

Und der kommt mit dem Rasen. Kaum sprießen erste grüne Halme, reißt homo erectus den uralten Benziner aus seinem rostigen Schlaf. Ich stand einmal direkt neben einem startenden Propellerflugzeug, Marke Dornier, in Bangalore, Indien. Danach habe ich zwei Stunden lang die Stewardess nicht mehr verstanden. Die Dornier kann es mit dem Mäher aufnehmen. Allerdings nicht so lang. Weil so einen Mäher kann man auch dann laufen lassen, wenn man gerade ein Bier trinkt. Sonst muss man ihn ja wieder anschmeißen. Das kostbare Gerät, das einen zum Beherrscher der weiteren Umgebung macht. Da kann keiner mehr irgendwas machen. Denken zum Beispiel. Oder telefonieren, was die meisten ja auch ohne Denken fließend beherrschen.

Ich erinnere mich, vor Jahren mit einem Verkehrsminister über Motorradlärm gestritten zu haben. Mir ging gegen den Strich, dass der gute Herr in der Jugend selbst mit der Vespa durch die Nacht geballert war und jetzt im hohen Alter gern ungestört schliefe. So ein Motorrad höre ich maximal 10 Sekunden lang. Dann ist es weg. Den Mäher? Vier bis fünf Stunden. Im Sommer alle vier Tage. Pro Welt-Besitzer. Da nicht jeder Besitzer der Welt am selben Tag mäht, habe Sie auf dem Land unter Weltbesitzern den Mäherlärm täglich. Manchmal sogar mit Krönung, direkt aus den Hinterhöfen der Hölle: dem benzingetriebenen Freischneider! Der Weltbesitzer hat entdeckt, dass am Rande des Gartens zwei bis drei Halm tiefe Flächen stehen, die er nicht mit dem Mäher erwischt. Ab sofort ist die Dornier aus dem Spiel. Den Freischneider sticht im Lärmquartett nichts mehr.

Der Verkehrsminister sagte, Lärm mache krank. So ganz richtig sein kann das nicht. Ich lebe seit ein paar Jahren nun im Dorf, auf dem Land und müsste folgerichtig tot sein. Bei mir fahren Traktoren durchs Wohngebiet (nein, keine modernen! Die alten, ungedämmten, natürlich ohne Katalysator. Krach ohne Filter), alte Ehepaare spielen mit schwerem Gerät, weil sie dem jungen Landschaftsgärtner am Ort kein Einkommen gönnen, und Bessermenschen, die Ihr Bessersein sogar plakatieren, bauen sich riesige Villen Samstag morgens um sieben. Meine Nerven sind ein bisschen flackrig geworden und ich ertappe mich dabei, mir eine besondere Hölle zu wünschen, eine mit Freischneidern und brüllenden Frontladern, mit Steinsägen und Rüttlern. Aber sonst …

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Das Motorrad macht für wenige Sekunden Krach. Den Mäher muss man dagegen über Stunden ertragen.

Wer wie ich mit dem Kopf Geld verdienen muss, kann nicht auf dem Land, in einem Dorf leben. Außer, er ist taubstumm. Oder Masochist. Dann hingegen kann man Dorfleben uneingeschränkt empfehlen. Und sollten Ihre Nachbarn entgegen jedem guten Dorfanstand am Ende mit leisen Elektromähern und Akkusensen arbeiten wollen, legen Sie Widerspruch ein! Melden Sie sich! Wenn die ganzen unangemeldeten Nebengewerbe in den Doppelgaragen auf einmal nicht mehr abends zwischen sieben und zehn Lärm machen sollten, wehren Sie sich!

Unsere Bauministerin hat womöglich all das genau bedacht. Wer alt wird, bezieht Renten. Und auf dem Dorf des Freischneiders wird so keiner wirklich alt. Dazu ist Lärm viel zu aggressiv fürs vegetative Nervensystem und das Herz. Wo lebt sie selbst eigentlich? Die Frau der Sozialen Partei?

Auf dem Dorf jedenfalls schimpfen die Alten über den Egoismus der anderen und bauen mit Billig-Garagen im Tetrapack den allerletzten Zentimeter Sicht weg. Chinesische Mauer für Anfänger. Danach parken sie vor der Garage. Damit der Nachbar es auch kapiert. Die hat man nie gebraucht. Das spöttische Grinsen dazu gibts gratis.

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Der Traum vom ruhigen Landleben ist vorbei: Mein Haus auf dem Land? Vermiete ich.

Da habe ich jahrelang Verhaltensbiologie erforscht. Und gegen mein Wissen gehandelt. Wenn ich dem Städter etwas zurufen dürfte, dann unbedingt jenes: bleibt in der Stadt! Da hast du nur einen, der über Dir trampelt und nachts Musik macht. Den kannst du greifen. Auf dem Dorf ist es wie im Affenbaum Darwins. Die alten Affen, die oben sitzen, scheißen auf die jungen unten. Dann lieber Hochhaus und am Sonntag raus aufs Land, dem einzigen Tag dort ohne Rasenmäher, Freischneider und Steinsäge.

Ich habe schon wieder eine Wohnung. Metropole. Mein Haus auf dem Land? Vermiete ich. Ich suche noch nach möglichst lärmresistenten Menschen, die sich absolut nicht um ihre Umgebung kümmern.

Der Autor wuchs in einer Kleinstadt auf und floh daraus im Teenageralter in pulsierende Metropolen, wo er zwei Jahrzehnte lebte. Als er in diesen vergessen hatte, warum er abgehauen war, kehrte er in ein Holzhaus auf einem Hügel an einem Bach in einem Dorf zurück. Seither weiß er es wieder.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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