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KOMMENTAR - Gefangen im Jurassic Park: Erleiden die deutschen Autohersteller dasselbe Schicksal wie Kodak und Nokia?

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Die Chinesen kommen und rollen den Markt auf: das Modell Han von ;BYD in einem Ausstellungsraum in der Hauptstadt Peking. Qilai Shen / Bloomberg

Arroganz, Behäbigkeit, mangelnde Vorausschau – ganze Konzerne können von neuen Technologien weggefegt werden, wenn sie zu spät reagieren. Der schnelle Untergang trifft manchmal gar unangefochtene Weltmarktführer. Die bekanntesten Beispiele dafür sind der Kamera- und Filmhersteller Eastman Kodak sowie der Handy-Produzent Nokia.

Derzeit erlebt die Autoindustrie eine technologische Revolution, es ist die grösste seit der Erfindung des Motorwagens durch Carl Benz anno 1886. Droht den deutschen Automobilherstellern nun das gleiche Schicksal wie einst den Konzernen Kodak und Nokia?

BYD rollt in China den Markt auf

«Tech oder Tod» hatte bereits der frühere Volkswagen-Konzernchef Herbert Diess treffend als Alternativen aufgezeigt. In China mehren sich nun die bösen Omen. Das Reich der Mitte ist für BMW, Mercedes sowie den Volkswagen-Konzern samt den Marken Audi und Porsche der mit Abstand wichtigste Markt.

Dort verkaufen sie gut jedes dritte Fahrzeug. Dabei handelt es sich jedoch vor allem um Autos mit Verbrennungsmotor, während vor Ort der Absatz sogenannter New Energy Vehicles boomt. Aufgrund dieses Trends hat Volkswagen jüngst seine jahrelange Marktführerschaft in China an den lokalen Konkurrenten BYD verloren. In der Wolfsburger Zentrale schrillen deshalb die Alarmglocken.

BYD – den Namen muss man sich merken. Das Akronym des Mischkonzerns, der nicht nur Autos, sondern auch Batterien baut, steht für Build Your Dreams. Und in China träumen bei E-Autos offenbar immer mehr Kunden nicht von einem VW, sondern einem BYD.

Auch andere lokale Anbieter holen im Vergleich mit der ausländischen Konkurrenz erheblich auf. Die Qualität der Hardware von chinesischen Autos hat sich erheblich verbessert, wie selbst die Konkurrenz einräumt. Und bei der Software treffen sie in Sachen Infotainment, Gamification und Bedienungsfreundlichkeit den Kundengeschmack.

Dieser Bereich wird neben Design, Marke und Fahrspass zum entscheidenden Verkaufsfaktor, das gilt vor allem für die sehr technologieaffinen Chinesen. Sie stehen in den Metropolen des Landes oft lange im Stau und wollen sich oder die Mitfahrer in dieser Zeit mit Infotainment-Angeboten unterhalten.

Damit liefern sie einen Vorgeschmack auf das assistierte und irgendwann autonome Fahren, denn dann werden für die Käufer die Interaktion mit dem Auto und das Angebot an Informationen, Filmen, Musik und Spielen noch wichtiger.

Die Revolution verläuft in China von unten nach oben. Das ist überraschend. Während früher teure Neuerungen wie das Antiblockiersystem (ABS) zuerst in der Oberklasse eingebaut und dann erst nach und nach über die Mittel- und Unterklasse ausgerollt wurden, boomen E-Autos im Reich der Mitte vor allem in den unteren und mittleren Segmenten.

Das liegt zum einen daran, dass die Batterieproduktion ein Stückkostengeschäft ist, und zum anderen daran, dass die chinesischen Anbieter in der Oberklasse kaum vertreten sind. Deshalb ist VW von den Marktverwerfungen am stärksten betroffen. Doch das kann sich ändern.

Ein Rechenzentrum auf vier Rädern

Zeitgleich mit dem Erfolg auf dem Heimmarkt nehmen chinesische Fahrzeugbauer und Elektroauto-Anbieter aus anderen Ländern den europäischen Markt ins Visier. Gerade Hersteller aus dem Reich der Mitte verzeichnen in Deutschland derzeit erstaunliche Wachstumsraten, wenngleich noch auf niedrigem Niveau.

Bereits im Jahr 2022 stammte eines von hundert neu zugelassenen Fahrzeugen aus dem Reich der Mitte. Aufhorchen liess im Oktober ferner die Ankündigung des Autovermieters Sixt, in den kommenden Jahren 100 000 E-Autos von BYD für den europäischen Markt zu kaufen, offenbar auch, weil hiesige Firmen nicht ausreichend lieferfähig sind.

Die deutschen Hersteller haben auf Megatrends wie Elektromobilität, Batterietechnik, Digitalisierung, Konnektivität und Gamification spät reagiert. Ihr jahrzehntelanger Erfolg verleitete sie dazu, lange am alten Geschäftsmodell festzuhalten, zumal ein neues Modell Risiken birgt.

Den chinesischen Herstellern war hingegen seit langem bewusst, dass sie den Vorsprung der Deutschen beim Verbrenner nie werden aufholen können. Deshalb haben sie viel stärker ihre Chance in der Elektromobilität und im Umbau des Fahrzeugs zum Rechenzentrum auf vier Rädern gesucht – mit Erfolg, wie sich nun zeigt.

Mögliche tektonische Verschiebungen in der Zukunft zeigen sich bereits in der Gegenwart. Das Urteil der Kapitalmärkte über die Chancen der Hersteller ist eindeutig: An der Börse wird Tesla mit 750 Milliarden Euro bewertet, das ist mehr als das Dreifache von BMW, Mercedes und Volkswagen zusammen. Und BYD kommt mit 35 Milliarden immerhin schon auf die Hälfte der Marktkapitalisierung von Volkswagen.

Zugleich liegt das Kurs-Buchwert-Verhältnis, das den materiellen Wert eines Konzerns ins Verhältnis zum Aktienkurs setzt, der deutschen Autobauer zwischen 0,4 (Volkswagen) und 0,8 (Mercedes), während Tesla auf 8,7 und BYD auf 4,5 kommt. Auch beim Markenwert ist Tesla längst gleichauf mit der deutschen Konkurrenz oder hat sie schon überholt.

Dennoch ist das Schicksal der deutschen Autoindustrie nicht besiegelt. Dank den meist hohen Gewinnen der vergangenen Jahre hatten und haben BMW, Mercedes und Volkswagen (dank Porsche und Audi) eine gute Finanzkraft für Investitionen in neue Technologien sowie Forschung und Entwicklung.

Das fällt manch anderem Hersteller aus Europa oder den USA schwerer. Zugleich können die deutschen Autobauer sich auf starke und weltbekannte Marken stützen, wenngleich diese auf den Erfolgen der Vergangenheit beruhen, die leicht und schnell wegbrechen können.

100 Millionen Zeilen Software-Codes

Für die etablierten Konzerne spricht zudem die Fähigkeit zur Massenherstellung auf allen Kontinenten inklusive Beschaffung, Produktion und Vertrieb. Das kann die Konkurrenz zwar lernen, doch ist die Materie komplex. Auch die Hersteller aus Japan und Korea haben einst lange Zeit gebraucht, um sich in Europa und den USA zu etablieren. Das wird bei den chinesischen Herstellern nicht anders sein.

Zudem sind die Autokonzerne aus Deutschland attraktive Kooperationspartner, sowohl was die Marke als auch mögliche Stückzahlen angeht. Das Modell exklusiver Partnerschaften läuft hingegen tendenziell aus. Das ist wichtig, da die Autohersteller einige Fähigkeiten nicht so schnell und qualitativ hochwertig entwickeln können wie spezialisierte Technologiefirmen.

Im Volkswagen-Konzern wird beispielsweise derzeit der Fehler korrigiert, mit der kriselnden Software-Einheit Cariad alles selbst machen zu wollen. In der Sparte haben mit Ingenieuren von VW, Audi und Porsche viele Köche den Brei verdorben.

Aus Tausenden von den Marken abgestellten Entwicklern wird eben noch keine Software-Company. Jetzt will man sich dem Vernehmen nach stärker für Anbieter wie Apple und Google oder Baidu und Tencent beim Infotainment sowie von Mobileye beim autonomen Fahren öffnen.

Zudem soll offenbar die Zahl der Zentralrechner im Auto sinken. Das spart Geld und reduziert die Komplexität, an der mancher Hersteller zu ersticken droht. Während etwa die modernste Variante des US-Kampfjets F-35 rund 25 Millionen Zeilen Software-Codes haben soll, sind es beim E-Auto 100 Millionen. Durch das assistierte und das autonome Fahren soll die Anzahl in den kommenden Jahren auf 200 bis 300 Millionen wachsen.

Das Smartphone wird zum Vorbild

Die neue Welt wird ferner geprägt sein von einer verschlankten Modellpolitik, kürzeren Produktzyklen und schnelleren Veränderungen von Fahrzeug-Derivaten, beispielsweise durch das Aufspielen neuer Funktionen über den Äther (Over-the-air-Updates).

Daran müssen sich die Oldtimer der Autowelt erst gewöhnen. Die Zeiten, in denen das Auto bei der Auslieferung fertig ist, sind vorbei. Es kann und soll, wie ein Smartphone, stets und jederzeit aktualisiert werden.

Arroganz, Behäbigkeit und mangelnde Vorausschau müssen sich rückblickend durchaus auch viele (ehemalige) Manager der deutschen Autoindustrie im Hinblick auf die technologische Revolution vorwerfen lassen. Bei der Elektrifizierung, der Konnektivität und dem Infotainment haben die deutschen Hersteller viel aufzuholen und nur noch wenig Zeit, denn Marktverschiebungen können wasserfallartig geschehen.

Kodak und Nokia haben das schmerzlich erlebt. Inzwischen hat die deutsche Autoindustrie zwar den Schalter umgelegt, doch «Gefahr erkannt» heisst noch nicht «Gefahr gebannt».

Sie können dem Frankfurter Wirtschaftsredaktor Michael Rasch auf den Plattformen Twitter, Linkedin und Xing folgen.

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