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Autonom durch den Ameisenhaufen

Der Kampf um den besten Autopiloten wird nicht auf der Autobahn gewonnen. Zumindest nicht in China. Dort suchen die Fahrer vor allem Unterstützung im Großstadtdschungel. Die will ihnen Mercedes mit dem nächsten CLA geben und entwickelt dafür auf Level 2++. Wir sind schon mitgefahren.

autonom durch den ameisenhaufen

In Peking fährt der Mercedes CLA autonom im Stadtverkehr. (Bild: Mercedes-Benz)

Dichter Verkehr auf unübersichtlichen Ampelkreuzungen, von links und rechts schießen die Scooter über das halbe Dutzend Fahrspuren, immer wieder quetscht sich irgendwer rücksichtslos in den endlosen Strom auf der Durchgangsstraße und aus allen Richtungen rennen Fußgänger herbei – der Stadtverkehr in Peking ist Stress pur. Doch der Fahrer im schwarzen Mercedes rollt mit ruhiger Miene ganz gelassen und entspannt durch diesen Ameisenhaufen. Zwar hat er die Augen aufmerksam auf der Straße, aber seine Hände liegen die meiste Zeit ganz locker im Schoß. Denn streng genommen ist er in diesem Moment gar nicht der Fahrer, sondern selbst hinter dem Lenkrad nur Passagier. Er fährt schließlich keinen gewöhnlichen Mercedes, sondern der Mann ist Ingenieur im Team von Mercedes‘ oberstem Strippenzieher Magnus Östberg und sein aktueller Dienstwagen ist eine S-Klasse, die mit der Elektronik des nächsten CLA ausgerüstet ist. Mit dem will Mercedes nicht nur neue Maßstäbe bei der elektrischen Effizienz setzen, sondern auch bei der Elektronik und vor allem beim assistierten Fahren, fasst der Chief Software Officer noch einmal die Botschaften zusammen, die uns die Schwaben seit der Premiere der Studie auf er IAA 2023 in München einbläuen.

Nur, dass er es diesmal nicht bei hehren Worten belässt, sondern zur ersten Mitfahrt in einem sogenannten Mule Car bittet, das nahezu autonom durch das vermeintlich anarchische Allerlei im Stadtverkehr von Peking fährt. Auf den ersten Blick eine schwarze S-Klasse wie jede andere, trägt sie ein paar mehr Kameras in den Kotflügeln und hat vor allem das erste eigene Betriebssystem MB.OS, das Mercedes parallel zur neuen Plattform MMA entwickelt. Darauf läuft ein Assistenzsystem, das sie in Stuttgart Level 2++ nennen und das viel weiter geht als alles, wofür sie in Deutschland bislang die Erlaubnis bekommen haben. Ja, Mercedes überlässt hierzulande den Fahrer vorübergehend gar vollends aus der Verantwortung und bieten das erste Level 3-System an. Doch während das nur unter eng definierten Bedingungen auf der Autobahn funktioniert und man mit Brüssel und Flensburg gerade um mehr ringt als Tempo 60, kämpft sich der Autopilot des kommenden CLA bis in die hintersten Ecken der chinesischen Hauptstadt vor. „Denn hier ist es, wo zumindest in China das Rennen ums autonome Fahren entschieden wird“, sagt Östberg und lässt den Blick wandern über eine chaotische Kreuzung, zehn Minuten vom Außenposten seiner Entwickler auf dem Gelände des BBAC-Werkes entfernt.

Die lokale Konkurrenz schläft nicht

Damit sind die Schwaben spät dran. Denn in Partnerschaft mit Elektronikkonzernen wie Huawei oder Xiaomi haben lokale Hersteller längts Systeme im Rennen, die bei der Navigation in der Innenstadt den gleichen Komfort bieten wie die hierzulande bekannten Autobahn-Assistenten. Während so mancher Chinese deshalb bereits mehr oder minder autonom durch Stadtviertel wie Chaoyang oder Haidian chauffiert wird, müssen S-Klasse-Fahrer noch selbst die Spur, das Tempo oder den Abstand halten – zumindest in einer gewöhnlichen S-Klasse.

Im Mule-Car dagegen gibt der Testfahrer einfach sein Ziel ein, startet die Navigation und aktiviert den bislang noch namenlosen Level2++-Assistenten, sobald er auf öffentlichem Gebiet ist – und hat von da an Pause. Zwar bleibt er in der Verantwortung, muss deshalb die Augen auf der Straße lassen und die Hände bisweilen kurz ans Lenkrad nehmen. Doch alle Fahraufgaben selbst übernimmt das MB.OS. Die Elektronik bestimmt das Tempo, hält vor der roten Ampel, fährt an der grünen wieder an, hält den Abstand und wählt den richtigen Kurs. Während es auf dem Kontrollbildschirm, den Östbergs Truppe aufs Armaturenbrett geschraubt hat, aussieht wie auf einem Wimmelbild, bremst die S-Klasse für Fußgänger, weicht Rollern und Rädern aus und macht höflich Platz, wenn sich der Nachbar vor den Bug quetscht. Selbst Linksabbiegen klappt, und zwar nicht nur am grünen Pfeil, sondern auch ungeschützt im Gegenverkehr. Und wenn die Navigation zum U-Turn rät, dann sucht sich der Prototyp dafür die passende Stelle, schlägt einen Haken und fährt ein paar Sekunden später auf der Gegenfahrbahn.

CLA nutzt vier Radare und zehn Kameras

Dafür nutzt MB.OS keine zusätzlichen Sensoren und auch keine speziellen HD-Karten. „Sondern uns reicht das Set-Up, das wir in jedem Auto verbauen werden“, sagt Östberg und zählt laut auf, wie der CLA seine Welt sehen wird: Vier Radare und insgesamt zehn Kameras hinter der Scheibe, in den Spiegeln, am Bug und am Heck öffnen der Elektronik die Augen und ermöglichen ein 360-Grad-Panorama, das weit genug reicht, um etwa auf Kreuzungen auch in die Seitenstraßen zu schauen.

Anhalten, abwarten, abbiegen, beschleunigen, und wieder einscheren – all das klappt im Prototypen ohne Risiko. Der oberste Software-Entwickler aus Stuttgart ist bei seiner Stippvisite mit dem Erreichten sichtlich zufrieden. Aber noch fährt das System wie ein Fahranfänger, der aus einer ausgelutschten A-Klasse zum ersten Mal in einen AMG umsteigen durfte. Er bremst zu heftig, beschleunigt zu kräftig und lenkt zu zackig. Und auch wenn er es nie zu einer gefährlichen Situation kommen lässt, ist er von „vulnurablen Road Users“ wie Östberg die Fußgänger und Zweiradfahrer nennt, bisweilen merklich irritiert und erlaubt sich eine Bedenkzeit, die den Insassen wie eine Ewigkeit vorkommt. Selbst wenn es am Ende doch nur ein paar Sekundenbruchteile sind.

„Doch schon jetzt sehen wir bei unseren Testfahrten, dass unser Sensorset ausreicht, dass wir viele der schwer vorhersehbaren Situationen im Stadtverkehr intuitiv beherrschen und dem Fahrer ein neues Maß an Unterstützung in den Metropolen bieten können“, sagt Östberg. Der Rest ist Feinschliff, und genau wie ein Fahranfänger sammelt der elektronische Stadtführer mit jedem Kilometer mehr Erfahrung – egal ob in der A-Klasse oder im AMG.

Mercedes möchte global autonom fahren

Diese Erfahrung sammelt der elektronische Neuling übrigens nicht nur in Peking oder Shanghai, sondern das System wird auch außerhalb Chinas an den Start gehen. Für die USA haben die Schwaben schon grünes Licht, sagt Östberg und berichtet auch von Gesprächen mit dem KBA, die durchaus Mut machen. Und ein bisschen Zeit haben Östberg uns seine Testfahrer ja noch – für den Feinschliff und für die Verhandlungen mit den Behörden.  Denn bis die Technik auf der MMA-Plattform und dem CLA als erstem Vertreter dieser neuen Generation an den Start geht, dauert es noch mehr als ein Jahr. Und selbst wenn sie bis dahin nicht alles gelernt haben, ist das kein Beinbruch – nicht umsonst ist die neue Architektur zum Update bereit.

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