Aprilia führte die neue Zweizylinder-Plattform mit dem Sportler RS 660 ein. Dessen Sondermodell Extrema zeigt die Besonderheit dieses Gedankens.
- Aprilia RS 660 Extrema (4 Bilder)
- Lesen Sie auch
- Sorge: Verarbeitung und Zuverlässigkeit
- Abserviert
- Aprilia RS 660 Extrema Details (11 Bilder)
- Berühmte letzte Worte
(Bild: Felix Toellich / Racetracker)
Als ich die Aprilia RS 660 in der Variante “Extrema” zum Test abholte, musste ich an das Rollenspiel Baldur's Gate 3 denken. Es gilt als “Anomalie” der Spieleindustrie, weil es viele aktuelle Vermarktungs-Trends schlicht ignoriert. Stattdessen setzte Entwickler Larian auf eine lange Entwicklungsphase zusammen mit Fans, die im Early-Access-Programm ihre Ansichten einbrachten. Es half sicher, dass sowohl Entwickler als auch Fans krasse D&D-Nerds sind. Es entstand ein Spiel, das D&D-Freunden die Herzen wärmt. Mit einer Planung von der Vermarktung aus wäre man mit einem anderen Spiel herausgekommen.
Das passt so ähnlich auch auf die Mittelklasse-Aprilia: Kleine Zweizylindersportler sind eine kleine, feine Nische mit eigenen Fans, die immer seltener bedient wird. Der Markt für kleine Sportmotorräder sei tot, so die Mehrheitsmeinung von Experten seit spätestens 2008. Wer einen vollverkleideten Sportler wollte, griff meist gleich zum 1000er-Superbike. Die 600er-Klasse kämpft mit geringem Interesse und hohen Preisen. Hauptsächlich junge Menschen interessieren sich für Sportkräder, die haben aber keine Kohle. Deshalb leitete Yamaha die R7 (Test) von der günstigen MT-07 ab. Ducatis “Supersport” stammt in ähnlicher Weise von der unverkleideten Monster ab.
Aprilia RS 660 Extrema (4 Bilder)
Luftige Linienführung, hier im Farbkleid der Rennfarben. In gelb gefällt sie mir am besten. (Bild: Clemens Gleich)
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Nun hat Aprilia es zwar nicht wie Larian geschafft, dass Kunden beim Testen und Entwickeln helfen und dafür sogar bezahlen, aber sie haben offensichtlich auf die Freunde des gepflegten Motorsports gehört. Aprilia fühlt sich im Sport verwurzelt, und auch wenn das kaufmännisch letztlich nicht so erfolgreich ist wie die Touren-Ausrichtung bei BMW, liebe ich sie genau dafür. Auf meiner alten Mille stand auf dem Tank die Anzahl Aprilias Wettbewerbs-Siege. Auf der Extrema steht das immer noch. Nur die Zahl wurde größer. Aus dieser Liebe heraus haben sie ein ganz besonderes Motorrad für eine ansonsten vernachlässigte Zielgruppe gebaut. Das war für mich schon interessant, als Aprilia sie im Oktober 2020 vorstellte. Es plagten mich aber die Zweifel der Zeit zwischen Aprilias Mille und den heutigen Krädern.
Sorge: Verarbeitung und Zuverlässigkeit
Aprilias Superbike RSV Mille (ab 1998 gebaut) war eine Ausnahme unter italienischen Sportmotorrädern, weil sie italienische Formensprache und Ergonomie mit fast schon japanischer Zuverlässigkeit verband. Meine Mille startete bei -15° C im Winter zuverlässig. Lassen Sie es mich ganz vorsichtig formulieren: In meinem späteren Testalltag war das mit Ducati-Sportlern anders. Den 60°-V2-Motor kaufte Aprilia bei Rotax ein, und die wissen, was sie tun. Zwar steht bei 30.000 km die Ventilspielkontrolle auf dem Wartungsplan, es müssen aber sehr selten Shims getauscht werden.
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Aprilia RSV Mille '98. “Das Wunder von Noale” stand als Überschrift über dem ersten Test dieses Superbikes in der MO. Und ein Wunder war sie.
(Bild: Clemens Gleich)
Abserviert
Als ich die Maschine bei Piaggio Deutschland in Düsseldorf abholte, beschäftigte ich mich gleich sehr nah mit allen Anbauteilen beim Umsatteln der Hecktasche von der KTM auf die RS. Die Bauteile fielen auf durch bemerkenswert gute Spaltmaße, intelligente Befestigung und einen insgesamt hohen Qualitätseindruck – es wehte mich ein bisschen was von Suzuki GSX-R 600 an. Der Eindruck bestätigte sich später beim Verkleidungsteile abschrauben. Den Kollegen der Fachzeitschrift Motorrad gefiel es weniger gut, sie nannten die Verarbeitung “rustikal”. Agree to disagree. Wenn ich die RS mit Japanern oder der wesentlich teureren Ducati Supersport 950 vergleiche, bin ich positiv überrascht von Piaggio. Schon beim Rangieren fiel das erfreulich schlanke Gewicht von 180 kg inklusive 15 Liter Benzin auf. Ich weiß, dass sich das jetzt komisch liest, aber: Die einfache Seilzugkupplung ist die beste, an die ich mich in einem schon recht langen Testerleben erinnern kann: klar fühlbarer, weicher Dosierbereich, keinerlei Nachrucken, feines Anti-Hopping.
Beim Motorgeräusch schrieben einige Kollegen nach der Präsentation, dass es ihnen zu laut sei. Die Extrema hat überdies einen CFK-Auspuff von SC Project. Dennoch ist sie mir als bekennendem Serienauspufffahrer trotz kernigen Klangs nicht zu laut. Auch hier möchte ich den Vergleich zu den 950er-Ducatis ziehen, die so laut sind, dass sie schon den Fahrer wirklich nerven, um dann im Homologations-Messbereich schlagartig leiser zu werden. Die RS macht das besser und sozialer. Als einziges Qualitätsmanko fiel mir die quietschende Hinterradbremse auf, wobei ich auch Nachsicht walten lassen will für ein Motorrad, das bei Übergabe 150 km auf dem Tacho hatte und noch nicht einmal eingefahren war. Nun sind anekdotische Beweise eben nur Beweise der Anekdote, deshalb las ich zusätzlich im Dauertest-Fahrtenbuch der Motorrad über die RS. Unzuverlässigkeiten bei bisher knapp 20.000 km: null. Werkstattbesuche: nur reguläre Wartung. Das war bei meiner KTM ganz anders. Ich vermute einmal hoffnungsvoll, Aprilia und Piaggio haben sich mehr als berappelt in ihrer etwas holprig gestarteten Partnerschaft.
Aprilia RS 660 Extrema Details (11 Bilder)
Rücklicht wie eine gezeichnete Fledermaus, als Einzelsitzbankabdeckung gibt es alternativ zum Sitz ein der RSV4 sehr ähnliches Flügelteil. (Bild: Clemens Gleich)
Berühmte letzte Worte
“Und bevor wir für die Fotos auf die GP-Strecke gehen, drehen wir jetzt eine gemütliche Runde auf der Nordschleife”, sagte mein Vorherfahrer, etwa zehn Minuten, bevor er auf einem Ölfleck das Vorderrad seiner Fireblade verlor und direkt vor mir mit dem Arsch in erheblichem Tempo über die Curbs gerieben wurde wie ein Cheddar über einen Hobel. Den Rest des Abends verbrachte ich im Regen am Telefon und im Krankenhaus, wo das Personal ihm angeknackste Wirbel diagnostizierte und uns zwei Müllsäcke ehemalige Motorradbekleidung zur Entsorgung übergab. Rider einigermaßen okay. In der kurzen Zeit auf der Nordschleife zeigte die RS das, was ich mir wünschte: Tolle Sport-Ergonomie, mit 100 PS (73,5 kW) genug Leistung für die schnellen Passagen, gleichzeitig aber nur so viel Leistung für den bleibenden Zwang, eine gute Linie zu suchen.