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Mehr Siesta wagen!

Die Sommer werden heißer, die Menschen quälen sich durch die Mittagsstunden, darum gibt es nun Forderungen nach mehr Siesta in Deutschland. Warum sich das entspannter anhört als es ist. Und was es über die Folgen des Klimawandels verrät.

mehr siesta wagen!

Gerade bei körperlicher Arbeit wie auf Baustellen wird der Umgang mit Hitzephasen zur Herausforderung.

Siesta – das klingt nach Liegestuhl, verschlossenen Fensterläden, Schläfchen unterm Sonnenhut. Man spürt, wie die Augenlider schwerer werden, hört schon die Eiswürfel im Longdrink-Glas klackern. Darum könnte man es als einen Aufruf zum Faulenzen verstehen, dass Amtsärzte angesichts des Klimawandels auch in Deutschland zu mehr Siesta im Sommer raten. So empfiehlt der Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD), Johannes Nießen, sich in den heißen Wochen des Jahres an der Arbeitsweise in südlichen Ländern zu orientieren, also früh aufzustehen, morgens produktiv zu sein, die komplizierten Arbeiten zu erledigen und Mittags auszuruhen. Bei starker Hitze seien Menschen nicht so leistungsfähig, hinzu kämen Konzentrationsprobleme, wenn Leute in warmen Nächten schlecht schliefen. Das alles spricht aus seiner Sicht für einen Wandel des Arbeitsverhaltens. Weniger preußisches Durcharbeiten, mehr mediterrane Mittagsschonung also.

Allerdings bedeutet die Siesta-Arbeitsweise eben nicht weniger Arbeit. Denn vor allem geht es ja um eine Verlagerung von Arbeitszeiten in die kühleren Stunden des Tages. Man fängt deutlich früher an, verkriecht sich ausgiebig vor der Hitze, und nimmt am späten Nachmittag oder frühen Abend wieder die Arbeit auf. Das ist sinnvoll aus Produktivitätssicht, zuträglich für die Gesundheit, dehnt die Arbeitszeit aber weiter über den Tag. Denn die Pause am Mittag dient ja dem Regenerieren, man hat nur Zeit zum Nichtstun und weiß schon, dass es gleich wieder weitergeht. Wenn daraus in Wahrheit ein gemütliches Auströpfeln in den Abend wird, weil es nach ausgiebiger Mittagspause schwerfällt, die Konzentration nochmals hochzufahren, dürfte es für viele schwer werden, ihr Pensum zu schaffen. Mit Siesta verbinden sich also allerhand kulturell geprägte Vorstellungen von süßer Trägheit und menschenfreundlichem Müßiggang, in der Realität verlangt die Aufspaltung des Arbeitstages jedoch durchaus Disziplin, verringert den Anteil an frei gestaltbarer Aktivzeit und ist keineswegs die Lizenz zum Faulenzen.

Forderungen nach Siesta-Arbeitszeiten treffen in Deutschland allerdings auf eine Gesellschaft, in der Arbeitszeitkonzepte ohnehin gerade kontrovers diskutiert werden. Bedeutung und Stellenwert von Arbeit scheinen neu verhandelt werden zu müssen. Dabei spielen die angespannten ökonomischen Aussichten eine zunehmend brisante Rolle. Fachkräftemangel und alternde Gesellschaft auf der einen Seite lassen Rufe nach mehr Arbeit, mehr Anstrengung, späterer Rente laut werden. Auf der anderen Seite pocht eine gut ausgebildete Jugend, mit besten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt und entsprechend hohen Ansprüchen an die Work-Life-Balance, darauf, die Erwerbsarbeit nicht zu sehr in den Alltag ausfransen zu lassen. Gerade junge Leute fordern genug Zeit für andere Aktivitäten, finden das vielfach wichtiger als Geld und Karriere. Prestige verspricht heute, möglichst frei über seine Zeit verfügen zu können. Das stellt Arbeitgeber vor Herausforderungen. Schon diagnostiziert das amerikanische Wall-Street-Journal auch deswegen den ökonomischen Niedergang für Europa und Deutschland in dessen Mitte. Eine alternde Gesellschaft mit hoher Wertschätzung für Freizeit bereite der ökonomischen Stagnation den Boden, heißt es da. Nun könnte der Klimawandel ein weiterer Faktor werden, die Produktivität im Land zu senken. Weil er in bestimmten Phasen des Jahres mit Hitze, hohen Ozonwerten, Temperatursprüngen auf eine Bevölkerung trifft, die ihre Arbeitszeiten bisher ganz an den Anforderungen des jeweiligen Jobs ausrichten und effizient durchziehen konnte – und sich um Umweltfaktoren nicht scheren musste.

An der Siesta-Debatte zeigt sich, wie weitreichend die Folgen des Klimawandels sind – eben nicht nur für die Natur, sondern auch für Lebenswandel und Kultur von Gesellschaften. Natürlich ist es keineswegs nur eine Frage verschobener Öffnungszeiten, wenn Menschen sich auf Arbeiten im Siesta-Modus umstellen müssen. Deutschland ist traditionell eher für effizientes Abarbeiten strikter Zeitpläne bekannt. Für gebündeltes „Reinklotzen“ mit der Aussicht, dass dann Schluss ist mit Maloche oder Büro. Dann werden traditionell die Klamotten gewechselt, und es ist Zeit für Familie und Sport, fürs Werkeln, Gärtnern, Gassigehen. Natürlich verändert es das Verhältnis zur Arbeit, wenn sie nicht „erledigt“ wird, sondern den Tag rahmt. Und wenn das pure Ausruhen an schattigen Plätzen eine notwendige Tagesleistung wird.

Noch ist das nur in kurzen Phasen des Jahres nötig. Man stöhnt dann über die Hitze, fürchtet sich vor dem Starkregen, freut sich aufs Grillen in endlosen Sommernächten – und die Phase ist wieder vorbei. Darum wird es manchem übertrieben erscheinen, über Siesta in Deutschland zu diskutieren, während sich der Klimawandel noch wie Wetterkapriolen anfühlt. Doch es ist klug, Wandel auch als Wandel zu behandeln und sich möglichst früh über Anpassung Gedanken zu machen. Siesta ist eine Strategie. Das Umdenken beim Bauen, bei der Gestaltung von Gärten und Städten sind andere Bereiche. In allen wird das Gewohnte in Teilen verschwinden. Je größer die Handlungsspielräume bei der Gestaltung des Neuen, desto gelassener werden Menschen mit dem Wandel umgehen. Noch aber scheint in Deutschland zu wenig verstanden zu werden, dass Hitze auch im „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer“-Land ein relevantes Thema ist. Im Sommer 2022 gab es in Europa wohl mehr als 60.000 hitzebezogene Todesfälle, wie ein Forschungsteam im Fachmagazin „Nature Medicine“ berichtet. Die Hitzerekord-Länder Italien mit 18.010 Toten und Spanien mit 11.324 Toten führen die traurige Statistik an – gefolgt von einem Land mit 8173 Hitzeopfern, in dem Siesta noch als exotisches Thema erscheint: Deutschland.

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