Im Alltagsbetrieb beeindruckt die schnittige Elektro-Limousine mit hohem Fahrkomfort und kurzen Ladezeiten. Manches aber nervt gewaltig.
- 500 Kilometer Reichweite sind drin
- Männerauto mit Raumschiff-Klang
- „Timmermanns-Bimmel“ nervt
- Viel Hartplastik trübt den Eindruck
Wer Geld sparen und die Augen auf sich ziehen will, wählt den Ioniq 6 in „Byte Blue“ – ein fröhliches Blau, das der Grundfarbe von EDISON ziehmlich nahe kommt. Die Lackierung gibt Hyundai dem Auto kostenlos mit. „Abyss Black“, die deutlich dezentere Farbe unseres Testwagens, kostet hingegen 554 Euro Aufpreis. Und trotzdem sorgt der Wagen, wo immer er auftaucht, immer noch für Aufsehen. Obwohl es inzwischen schon eine ganze Weile auf dem Markt ist. Der Grund ist das extravagante Design, das die meisten anderen Autos, selbst solche mit Elektroantrieb, ganz alt aussehen lässt.
Denn der Ioniq 6 kommt nicht als SUV in Schuhschaltel-Optik daher, sondern als elegante, besonders windschnittige Familienlimousine. Mit einer Länge von rund 4,85 Metern gerade noch garagentauglich, dank eines Radstands von knapp drei Metern herrlich geräumig. Und mit einem cW-Wert von 0,21 obendrein auch noch verbrauchsgünstig – dazu später mehr.
Modern Style Das Styling des windschnittigen Hyundai Ioniq 6 sorgt für Gesprächsstoff – wie auch so manche Hausarchitektur.
An Ladestationen wurde uns jedenfalls nie langweilig: Spätestens nach einer Minute tauchten erste Schaulustigen auf, spätestens nach zwei Minuten waren wir in ein Gespräch über das Fahrzeug verwickelt. Was mitunter dafür sorgte, dass wir länger an der Ladesäule standen als nötig. Denn wie das Schwestermodell Ioniq 5 verfügt auch der „Sechser“ über ein 800-Volt-Bordnetz, das Gleichstrom mit hoher Geschwindigkeit anzusaugen vermag – wo immer dies die Infrastruktur hergibt und die Rahmenbedingungen es zulassen.
500 Kilometer Reichweite sind drin
Aber auch sonst wusste der Hyundai Ioniq 6 zu begeistern. Unser dunkles Testexemplar war die mittlere von drei Modell-Varianten, die Hyundai derzeit anbietet und für die sich schlauerweise derzeit 72 Prozent aller Käufer entscheiden. Sie verfügt über einen 168 kW oder 229 PS starken Heckantrieb und die größere von zwei Batterien mit einem Fassungsvermögen von netto 77,4 kWh. Der Testwagen stand zudem auf Rädern im 18-Zoll-Format, die mit den neuen, besonders laufwiderstandsarmen iON-Reifen von Hankook für Elektroautos bestückt waren.
Lademeister Dank 800-Volt-Architektur zählt der Ioniq 6 zu den derzeit schnellsten Elektroautos – an der Ladesäule. Fotos: Rother
Bis zu 610 Kilometer Reichweite sollen sich damit darstellen lassen, sagt der Hersteller. Na ja, im Stadtverkehr und im Eco-Modus vielleicht. Im gemischten Testbetrieb kamen wir (bei eher kühlen Sommertemperaturen) mit dem 1,9 Tonner auf Durchschnittsverbräuche zwischen 15,7 und 16,2 kWh/100 km und Reichweiten von knapp 500 Kilometern. Was verglichen mit anderen Stromern ähnlicher Größe und Leistung ein guter Wert ist.
Männerauto mit Raumschiff-Klang
Das mag am Anfang ganz nett erscheinen, nervt aber auf Dauer. Wir haben den Soundgenerator schnell abgeschaltet und uns im Komfort-Modus eingerichtet: Als elektrischer Raumgleiter bietet der Ioniq 6 viel mehr Entspannung.
Raumgleiter Der Ioniq 6 ist ein überaus komfortables Reisemobil mit viel Platz. Nur die Kopffreiheit ist etwas knapp bemessen. Foto: Thorsten Weigl
Mit dem betreuten Fahren meint es Hyundai allerdings manchmal etwas zu gut. Die Koreaner haben ihr neuestes Produkt mit einer Armada von Assistenzsystemen ausgestattet, um die Unfallgefahren zu minimieren. Ein an sich löbliches Vorhaben, das aber dazu führt, dass es im Auto ständig bimmelt, gongt und piepst. Weil man im Gespräch mit dem Beifahrer für ein paar Sekunden den Kopf nach rechts richtet, während der Fahrt auf dem Touchscreen einen neuen Radiosender sucht oder sich mitunter gar erdreistet, die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Landstraße oder das streckenweise Tempolimit auf der Autobahn um zwei km/h zu überschreiten. Das stresst ungemein.
„Timmermanns-Bimmel“ nervt
Die „Timmermanns-Bimmel“ (der für den Verkehr zuständige EU-Kommissar hat dafür gesorgt, dass Neuwagen ab 2022 verpflichtend mit einem automatischen, kamera- und/oder GPS-gestützten Speedlimiter ausgerüstet werden müssen) lässt sich zwar abschalten. Aber dazu braucht es vier Tastenbefehle im Untermenü – bei jeder Fahrt neu. Oder man legt im Bordcomputer ein Fahrerprofil an und schaltet dort sämtliche Assistenzfunktionen aus. Besser wäre da eine Direktwahltaste im Lenkrad. Denn die Fehlerquote des Systems ist hoch. Auch weil die Straßenverkehrsbehörden oft schlampig arbeiten und gerne vergessen, das Ende eines Tempolimits mit Schildern anzuzeigen.
Aber dafür kann Hyundai nichts. Schon eher für die knappe Kopffreiheit auf der Rücksitzbank: Jenseits von 1,80 Meter Körpergröße ist der Himmel stets sehr nahe. Und da wir gerade schon am meckern sind: Wünschen würden wir uns auch eine größere Heckklappe, die wie beim Polestar 2 auch die Heckscheibe umfasst. Das Be- und Entladen des an sich recht großen (405 Liter), aber auch über ein Meter tiefen Kofferraums macht doch gelegentlich große Mühe. Auch wegen einer relativ hohen Ladekante.
Viel Hartplastik trübt den Eindruck
Auch würde man sich in der nächsten Evolutionsstufe von den Finanzern im Konzern ein wenig mehr Generosität wünschen: Einige der im Innenraum eingesetzten Materialien kommen doch etwas billig daher. Ok, Nachhaltigkeit steht derzeit hoch im Kurs. Aber Türtafeln in Hartpastik und Sitzbezüge aus „veganem Leder“ (was immer das sein mag) passen nicht zu einer Limousine der 60.000 Euro-Klasse und der ansonsten sehr guten Verarbeitungsqualität, die den hochwertigen Charakter des mit viel Liebe zum Detail gestalteten Elektroautos unterstreicht.
Unser Testwagen kam inklusive Uniq-Paket (das unter anderem die Armada an Assistenzsystemen, ein Head-up-Display, LED-Matrix-Scheinwerfer, ein Bose-Soundsystem sowie eine Wärmepumpe umfasst) auf einen Endpreis von fast 61.000 Euro. Inklusive Allradantrieb und mit Vollausstattung wäre die 70.000 Euro-Marke nicht mehr fern. Da kann man schon einmal gepolsterte Armauflagen verlangen, oder?
Windspiel Der Ioniq 6 wurde im Windkanal geformt. Um einen cW-Wert von 0,21 zu erreichen, wurde der Unterboden verkleidet und am Heck allerlei Spoilerwerk aufgefahren.
Das trübt zwar ein wenig den Gesamteindruck. Aber mit Blick auf die exzellenten Fahr- und Ladelleistungen sowie den hohen Fahrkomfort fällt das Fazit nach zwei Wochen des Gebrauchstests ausgesprochen positiv aus: Mit dem Ioniq 6 hat Hyundai ein Elektroauto auf die Straße gebracht, das auch die deutschen Premiumanbieter fürchten müssen.
Der heckgetriebene BMW i4 ist zwar mit 210 kW Antriebsleistung stärker motorisiert, kann seinen kleineren (67 kWh) Akku aber nur mit maximal 180 kW füllen – und kostet in vergleichbarer Ausstattung locker einige Tausender mehr. Und der neue VW ID.7 – der andere direkte Wettbewerber aus deutschen Landen – verfügt auch nur über ein 400-Volt-Bordnetz. Und auch er dürfte nach Stand der Dinge eher teurer als günstiger als der Hyundai Ioniq 6 werden. Nicht zu vergessen das Model 3 von Tesla, das nach den jüngsten Preissenkungen hierzulande bereits für knapp 42.000 Euro zu haben ist. Das wird noch ein ganz spannendes Rennen. Hyundai-Geschäftsführer Keller erwartet einen Absatz von 6000 Exemplaren im Jahr. Das sollte gelingen.