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Da kommt was auf uns zu

Seit Jahresbeginn müssen ganz neue Motorradmodelle die strengeren Abgasgrenzwerte nach Euro 4 erfüllen, und ab 2017 gilt dies für ALLE neu zugelassenen Maschinen. Das macht den Herstellern Druck und wird den Markt dieses Jahr aufmischen.

Die gute Nachricht zuerst: Motorradbesitzern kann die Verschärfung der Abgasgrenzwerte ziemlich egal sein – es gibt Bestandsschutz, und eine Nachrüstpflicht ist nicht zu befürchten. Und nun die schlechte: Das ohnehin anspruchsvolle Neupreisniveau dürfte weiter steigen, weil die Hersteller die Kosten für den erheb- lich höheren technischen Aufwand an die Kunden weiterreichen werden. Denn die neue Abgasnorm markiert lediglich die Spitze des Eisbergs: Die neuen Modelle der Marken müssen jetzt eine Vielzahl von weiteren umwelt- und sicherheitsrelevanten Raffinessen vorweisen, um die für die Vermarktung unumgängliche Typgenehmigung zu bekommen.

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Die EU-Kommission hat für dieses Verfahren ganz neue Spielregeln festgelegt, die seit dem 1. Januar dieses Jahres europaweit gelten. Doch was sie alles umfassen – ein Teil davon ist im Eisberg-Foto unter Wasser zu sehen – findet sich erst in den ellenlangen Anhängen der EU-Verordnung 168/2013 „über die Genehmigung und Marktüberwachung von zwei- oder dreirädrigen und vierrädrigen Fahrzeugen“, die am 15. Januar 2013 die Vorgängerverordnung 2002/24 ablöste. Dem neuen, knapp 60-seitigen Regelwerk folgten vier Ausführungsverordnungen, die weitere Details regeln.

Keine Auskünfte zur künftigen Modellpolitik

Darin ist auch festgelegt, dass ab dem 1. Januar 2017 keine Neufahrzeuge mehr zugelassen werden dürfen, die nach den alten Vorschriften homologiert wurden und somit lediglich Euro 3 entsprechen. Im Klartext: Die Motoradhersteller müssen etablierte Modelle, die sie 2017 weiterhin in Europa verkaufen wollen, in diesem Jahr neu typprüfen lassen – gemäß den reformierten Regeln mit höheren Hürden.

Für die Branche ist dies Chance und Fluch zugleich: Den Herstellern kann es eine willkommene Gelegenheit sein, die Produktpalette zu entrümpeln, sprich: alte Modelle auslaufen zu lassen. Oder sie müssen viel Geld in die Hand nehmen, um gut laufende Modelle auf den neuesten Stand zu bringen. In die Karten lassen sie sich dabei nicht schauen: Auf die MOTORRAD-Fragen an die großen Marken, für welche Euro 3-Fahrzeuge aus ihrem aktuellen Angebot eine neue Typgenehmigung angestrebt wird und welche Modelle zum Jahreswechsel 2016/17 auslaufen, gab es keine konkreten Antworten.

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So lässt BMW verlauten: „Zu unserer zukünftigen Modellpolitik geben wir aus Wettbewerbsgründen keine Auskünfte.“ Doch sicher ist schon jetzt, dass die Einzylinder-Enduro G 650 GS und die K 1300 S aus dem Programm fliegen. Ducati Deutschland zieht es vor – trotz Nachfrage – , erst gar nicht zu reagieren. Harley-Davidson und Honda drücken sich in ihren Antworten ebenfalls um klare Ansagen. Und von Kawasaki heißt es offiziell: „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir zur geplanten Modellpolitik 2017 noch nichts sagen dürfen.“ Dabei meldet der Flurfunk bereits, dass Kawasaki viele, wenn nicht alle Cruiser aus dem Programm kegeln und sich modellmäßig straffer aufstellen will. KTM hat sich aktuell schon von der 1190 RC8 R verabschiedet. Wie es weitergeht, verraten uns die Österreicher aber nicht.

Verramschen der Euro 3-Resterampe?

Offiziell steht bei Suzuki zurzeit lediglich fest, dass die neue SV 650 die Gladius ersetzen wird. Aber es sind mehr als nur Gerüchte, dass einige aktuelle Modelle wie etwa GSX-S 1000 und der Scooter UK 110 schon nach der neuen Richtlinie geprüft sind, formal aber noch nicht der neuen Verordnung entsprechen. Triumph hat indes schon eine beachtliche Zahl an Euro 4-Modellen. Die Entscheidung, was mit dem Rest der Angebotspalette passiere, sei noch nicht gefallen, sagt der Pressesprecher. Ähnliches hört man auch von Yamaha. Branchenkenner wissen jedoch bereits: Die Tage der Yamaha-Modelle SR 400 und XJR 1300 sind gezählt. Startet Richtung Saisonende 2016 das große Verramschen von der Euro 3-Resterampe? Die einen sagen so, die anderen sagen so – eine klare Markteinschätzung ist derzeit daraus nicht abzuleiten.

Jedenfalls sitzt den Herstellern die Zeit ganz schön im Nacken, um sich für das Modelljahr 2017 aufzustellen. „Technisch ist alles machbar, die Frage ist nur, wie schnell es umsetzbar ist“, sagt Christoph Gatzweiler vom Industrieverband Motorrad (IVM). Die Hersteller stünden unter enormen Zeitdruck, weil Details zu den technischen Anforderungen erst im Laufe des Jahres 2014 bekannt geworden seien. „Das ist schon sportlich“, meint Gatzweiler. Er kritisiert zudem den „aufgeblähten administrativen Aufwand“ wie etwa den um ein Vielfaches umfangreicheren Beschreibungsbogen des Fahrzeugs mit allen technischen Spezifikationen.

On-Board-Diagnose ist größte Herausforderung

Das bestätigt auch KTM-Homologations-Experte Alwin Otto: „Die erforderlichen Unterlagen haben den dreifachen Umfang im Vergleich zur Vorgängerverordnung.“ Dies bedeute ungefähr 50 Prozent mehr Zeitaufwand bei der Vorbereitung. „Die größte Herausforderung stellt allerdings die anspruchsvolle On-Board-Diagnose (OBD) dar“, stellt Otto klar. Sämtliche Steuergeräte müssten verändert werden, weil der benötigte Fehlerspeicher sich nicht in vorhandene Hardware integrieren lasse. Für KTM ist dagegen die jetzt geforderte geschlossene Tankentlüftung mit Aktivkohlefilter die leichtere Übung. „Damit haben wir schon seit zehn Jahren Erfahrung auf dem US-Markt.“

Nicht nur, dass der Aktivkohlefilter im Coladosen-Format in der Maschine untergebracht werden muss. Die geschlossene Tankentlüftung ist eine echte Herausforderung für die Entwicklung des Motormanagements. Henning Heikes, der bei Bosch für Motorrad-Motorsteuerungssysteme verantwortlich ist, erklärt warum: „Die Anforderung und der daraus resultierende Einfluss sind so groß, dass zusätzliche Variabilitäten in der Motorsteuerung berücksichtigt werden müssen.“ Dass weiterhin mechanische Drosselklappen im Einsatz seien, mache das Ganze noch kniffliger.

Im Sog von Euro 4 gibt es viele dicke Bretter zu bohren. Dazu zählt auch, für ABS eine Ausnahme vom Verbot der umwelt- und sicherheitsrelevanten Abschaltvorrichtungen zu erreichen, nämlich für den Offroad-Einsatz bei Enduros. Diese könnte in einer weiteren EU-Verordnung, die zur Korrektur einiger Ungereimtheiten im Regelwerk ansteht, verankert sein. Freunde geländetauglicher Maschinen dürften es in der Zukunft danken.

Interview mit dem IVM

Die jetzt geltende Abgasnorm Euro 4 wirft viele Fragen auf. Christoph Gatzweiler, der beim Industrieverband Motorrad (IVM) das Ressort Technik leitet, beantwortet sie.

? Müssen ältere Fahrzeuge nachgerüstet werden?

! Auf keinen Fall, der Bestand an zugelassenen Fahrzeugen ist hiervon nicht betroffen.

? Können bestehende Euro 3-Typgenehmigungen auf Euro 4 erweitert werden?

! Nein, es handelt sich nicht um einen einfachen Übergang von einer Abgasstufe zu den nächstschärferen Grenzwerten, sondern die EU-Kommission hat das gesamte Typgenehmigungsverfahren umgestaltet. Deswegen bedarf es spätestens ab 2017 für alle neuen Fahrzeuge auch einer kompletten Umstellung der Genehmigung.

? Warum funktioniert ein einfaches Update nicht?

! Es wurde schlicht so viel geändert, dass die neuen Regelungen auch eine neue Richtlinie erforderten. Die alte Rahmenverordnung wurde gleichzeitig durch die neue Richtlinie aufgehoben. Ein simples Update ist somit formell nicht mehr möglich.

? Was muss stattdessen unternommen werden, um bestehende Baureihen auf den neuen Stand zu bringen?

! Die Technik der Fahrzeuge muss an vielen Stellen umgestaltet oder ergänzt werden. Im administrativen Bereich gibt es ebenfalls viele Neuerungen.

? Gibt es konstruktions- oder konzeptbedingte Merkmale, die dies erschweren oder erleichtern?

! Die größte Herausforderung ist der enge Zeitrahmen zwischen der Veröffentlichung aller technischen Anforderungen 2014 und der Umsetzungsvorgabe für neue Modelle 2016 beziehungsweise für alle Motorräder 2017.

? Was ist aus Ihrer Sicht die härteste Nuss bei der Umstellung?

! Das ist sicher die Einführung der On-Board-Diagnose (OBD). Während des Fahrzeugbetriebes sollen abgasbeeinflussende Systeme nicht nur einfach überwacht, sondern zusätzlich auch auf die rationale Logik der gesendeten Daten und Messwerte hin überprüft werden. Das geht deutlich weiter als die erste OBD-Stufe beim Pkw. Viele Modelle verfügen heute noch gar nicht über die elektronische Peripherie, um diese Aufgabe überhaupt erfüllen zu können. Für die Rationalitätsprüfung muss zusätzlich eine Software entwickelt werden, die die Bewertung der Daten durchführt. Der Aufwand für die Hersteller ist nicht zu unterschätzen.

? Gibt es noch Schlupflöcher für Baureihen, die diese Hürden nicht nehmen können?

! Es gibt die Möglichkeit des Abverkaufs von einer beschränkten Menge an Lagerfahrzeugen über den Stichtag 1. Januar 2017 hinaus. Hierzu muss der Fahrzeughersteller aber eine spezielle Ausnahmegenehmigung, die sogenannte „Auslaufende Serie“, beim Kraftfahrt-Bundesamt beantragen. Die maximale Anzahl entspricht hierfür zehn Prozent der in den Jahren 2015 und 2016 in Deutschland zugelassenen Fahrzeuge eines Modells. Bleibt die Anzahl unter 100 Stück, so darf der Hersteller auf eben diese 100 Fahrzeuge aufrunden. Das sind aber keine großen Stückzahlen pro Baureihe.

? Sind diese Ausnahmen für Lagerfahrzeuge zeitlich begrenzt?

! Die Zulassung dieser Fahrzeuge wird tatsächlich auf die Jahre 2017 und 2018 beschränkt.

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