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Brivio: Japanische Hersteller haben "Arbeit an der Strecke vernachlässigt"

Honda und Yamaha kämpfen in der modernen MotoGP-Welt um den Anschluss

In einer Zeit, in der die japanischen Hersteller in der Königsklasse der Motorrad-WM in ihrer schlimmsten sportlichen Krise stecken, verweist Davide Brivio in seiner Beurteilung von außen auf das Feedback von der Rennstrecke an die Ingenieure in der Fabrik.

In fünf Jahren baute Brivio einst das MotoGP-Team von Suzuki von Grund auf neu auf. Das Ergebnis war der WM-Titel in der Saison 2020 mit Joan Mir im Sattel der Suzuki GSX-RR.

Der von Brivio eingeleitete Suzuki-Erfolg sorgte innerhalb und außerhalb des MotoGP-Paddocks für derartige Bewunderung, dass der talentierte italienischen Teammanager von einem Formel-1-Team abgeworben wurde. Seit 2021 arbeitet Brivio für Alpine.

Francesco Bagnaia, Marco Bezzecchi, Jorge Martin, Johann Zarco

Im Interview für die spanischsprachige Ausgabe von Motorsport.com spricht Brivio über den Zusammenbruch der japanischen Hersteller in der MotoGP-Szene und gibt dabei einige interessante Einblicke, die aus seinen Erfahrungen mit dem Formel-1-Team Alpine stammen.

Frage: “Davide, wie denken Sie über das aktuelle MotoGP-Geschehen?”

Davide Brivio: “Aus sportlicher Sicht ist es schön zu sehen, wie neue Fahrer aufsteigen und zu Spitzenfahrern werden. Sie sind jung und haben sich in den vergangenen paar Jahren explosionsartig entwickelt. Aber im Sinne der Meisterschaft als Ganzes ist es schade, dass die Rennsieger auf japanischen Motorrädern wie Fabio Quartararo, Marc Marquez, Franco Morbidelli, Joan Mir oder Alex Rins nicht die Möglichkeit haben, regelmäßig um Siege zu kämpfen. Das nämlich würde für mich das Spektakel in der aktuellen MotoGP-Szene stark verbessern.”

Davide Brivio

Ducati-Überlegenheit “nicht die Schuld von Ducati”

Marc Marquez, Fabio Quartararo

“Ich weiß, dass viel über Ducati und deren große Präsenz im Starterfeld gesprochen wird. Das ist für mich eine Folge der Situation. Das Problem ist, dass Ducati sehr stark geworden ist und acht Motorräder hat. Das ist natürlich sehr auffällig. Aber bei Ducati haben sie einfach gut gearbeitet und haben es geschafft, ihr Motorrad auf das aktuelle Niveau zu bringen. Vielleicht waren andere Hersteller weniger mutig bei der Suche nach Satellitenteams.”

“Ich glaube, dass die Situation einen besseren Kompromiss erfordert. Aber das ist nicht einfach, denn das sind Marktsituationen. Aber sicherlich sind die acht Ducatis genug. Wenn eine nicht gewinnt, gewinnt eine andere. Das ist überhaupt nicht die Schuld von Ducati, denn sie haben das beste Motorrad gebaut. Und deshalb will jetzt jeder ihr Motorrad haben.”

Frage: “So viele Ducatis und dass sie so konkurrenzfähig sind: Wird das nicht zu einer Waffe gegen das Talent der besten Fahrer?”

Brivio: “Einerseits ja. Aber in der Geschichte des Motorradsports war das schon immer so. Es stimmt auch, dass die besten Fahrer meist auf den besten Motorrädern sitzen. Wenn einer ein starkes Motorrad hatte, war es schwierig, das Talent des Fahrers zu beurteilen. Auch in Reihen der Ducati-Fahrer gibt es Unterschiede hinsichtlich der Performance. Es gibt Fahrer mit mehr Talent als andere. So ist das nun mal in der Motorrad-WM.”

Franco Morbidelli, Marc Marquez

“Man muss die siegreiche Kombination erschaffen, das siegreiche Paket zwischen Fahrer und Motorrad. Und dann kommt es darauf an, wie viel Prozent des Fahrers oder des Motorrads den Ausschlag geben. Diese Situation mit acht Ducatis im Feld sollte die anderen Hersteller dazu anregen, Satellitenteams zu ‘klauen’, also mit anderen Teams zu verhandeln, um sie mit ihren konkurrenzfähigen Motorrädern anzulocken. Das wäre eine Herausforderung für andere und sie könnten die Anzahl ihrer Motorräder erhöhen.”

Frage: “Und um technische Talente zu stehlen, wie es in der Formel 1 oder im Fußball geschieht?”

Brivio: “In der Formel 1 ist es vielleicht zu extrem. In der MotoGP-WM sind die Teams sehr statisch, man hat fast schon eine feste Position. Solange man sich nicht entscheidet zu gehen, ist es schwierig, sich zu verändern. In der Formel 1, im Fußball, im Basketball wird umbesetzt, wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Das ist in jedem Sport so. In der MotoGP-Szene hingegen ist alles ein bisschen statisch. Selbst wenn man nach ein paar Jahren zurückkommt, sind es fast immer noch dieselben Leute.”

Haben Ingenieure bei Honda und Yamaha die richtigen Infos?

Frage: “Was glauben Sie, ist der Grund für die Formkrise der japanischen Hersteller?”

Brivio: “Nun, es liegt auf der Hand, dass die japanischen Hersteller aufholen müssen in puncto der Technologie, wie zum Beispiel der Aerodynamik und den zahlreichen Innovationen, die Einzug gehalten haben. Das wird Zeit brauchen. Ich glaube auch, dass die japanischen Teams seit vielen Jahren auf dieselbe Art und Weise arbeiten. Als es einst darum ging, gegeneinander anzutreten, haben sie alle mit dem gleichen System gearbeitet und es war kein Problem.”

“Dann aber kam Ducati, dann Aprilia, dann KTM. Und die europäischen Hersteller arbeiten viel mehr mit dem, sagen wir mal, Racing-Gen. Sie arbeiten agiler. Wenn ich an die vergangenen vier, fünf Jahre zurückdenke, dann waren es immer die Europäer, die mit neuen Ideen kamen. Sie waren es, die neue Bereiche wie Aerodynamik, Ride-Height-Device, Massendämpfer, Launch-Control und so weiter erforscht haben.”

“Die Japaner hingegen haben ihre Philosophie beibehalten. Und passierte es, dass die Japaner plötzlich ins Hintertreffen gerieten, als die Europäer all diese Ideen umsetzten. Die Japaner hatten sich einfach nicht auf die Veränderung vorbereitet und sind so aus der Rolle der Gejagten in die Rolle der Jäger geraten.”

“Man muss sagen, dass die Japaner vielleicht schon immer ein bisschen skeptisch waren. Sie haben nicht viel von den neuen Lösungen gehalten. Sie dachten, das Motorrad sei etwas Einfacheres. Sie fingen erst an, an diesen neuen Ideen zu arbeiten, als sie dazu gezwungen wurden. Und so ist man immer im Rückstand. Die Japaner hatten eine sehr einfache Vorstellung von der Motorrad-WM. Hingegen waren Ducati, KTM oder Aprilia sehr innovativ. Sie kamen mit der Mentalität, immer etwas anderes zu finden, waren avantgardistisch. Aber es ist schwierig, das zu beurteilen.”

Frage: “Sehen Sie eine mittelfristige Lösung?”

Brivio: “Ein anderer Punkt ist, dass die Japaner die Arbeit an der Strecke, also an der Rennstrecke, ein wenig vernachlässigt haben. Natürlich ist die Arbeit, die man zu Hause macht, sehr wichtig, wenn man ein Motorrad plant und entwirft. Aber da beißt sich die Katze in den Schwanz. Die Ingenieure zu Hause können gute Arbeit leisten, wenn vorher auf der Rennstrecke sehr gut und effizient gearbeitet wurde. Das Team an der Rennstrecke muss hochqualifiziert sein und auf einem hohen Niveau arbeiten, um die richtigen Informationen nach Japan zu übertragen. Das Team muss in der Lage sein, die gleiche technische Sprache zu sprechen wie die Japaner in der Fabrik.”

“Der Ausgangspunkt ist die Kommunikation zwischen dem Team und dem Mutterkonzern. Die Europäer haben den Vorteil, dass sie Personen wie Gigi Dall’Igna (bei Ducati) oder Romano Albesiano (bei Aprilia; Anm. d. Red.) direkt an der Strecke vor Ort haben. Da gibt es eine sehr direkte Kommunikation. In Japan ist meiner Meinung nach alles ein bisschen weit weg. Außerdem scheint es mir, dass sie sich jetzt nur noch auf die Arbeit in der Fabrik konzentrieren.”

“Honda und Yamaha müssen jetzt ein gutes Motorrad bauen, aber ich weiß nicht, ob sie die Informationen haben, um dieses gute Motorrad zu bauen. Ich weiß es nicht. Ich schaue mir die MotoGP-Rennen im Fernsehen an und kenne vielleicht nicht alle Details. Aber es scheint mir, dass dem, was an der Strecke gemacht wird, nicht genug Bedeutung beigemessen wird. Die Arbeit vor Ort an der Rennstrecke ist sehr wichtig, um die besten Teile auszuwählen, nämlich die, die dir wirklich einen Vorteil verschaffen, ohne dass du dich verrennst und alles ausquetschst, was verfügbar ist.”

“Vor 15 oder 20 Jahren war das anders, es war einfacher. Die Motorräder waren viel simpler, sie wurden zu Hause gebaut. An der Rennstrecke hat man dann an den letzten fünf oder zehn Prozent der Performance gearbeitet und Informationen über einige wenige Parameter wie Rahmen, Motor, Reifen, Fahrwerk ins Werk geschickt. Heute aber gibt es viel mehr Instrumente, um Informationen zu sammeln. Es gibt viel mehr Kanäle, jede Menge Sensoren, Programme mit komplexen Algorithmen, und so weiter. Umso wichtiger ist es zu wissen, wie man all diese Informationen, die von der Strecke kommen, übertragen und nutzen kann.”

“Ich glaube, das ist ein Bereich, in dem sich die japanischen Hersteller verbessern können. Denn auf der technischen Ebene haben die Japaner erstklassige Ingenieure, das ist nicht das Problem. Ich kann nicht glauben, dass diese Ingenieure nicht in der Lage sind, ein gutes Motorrad zu bauen. Aber sie haben nicht die richtigen Richtlinien und die richtigen Ideen, um ein gutes Motorrad zu bauen.”

Brivio plant keine MotoGP-Rückkehr, schließt aber auch nichts aus

Frage: “Was halten Sie von Alex Rins’ Entscheidung, zu Yamaha zu wechseln?”

Brivio: “Um ehrlich zu sein, ist das eine sehr logische Entscheidung. Er wechselt von einem Privatteam in ein Werksteam. Lucios Team (LCR-Honda von Lucio Cecchinello; Anm. d. Red.) ist ein großartiges Privatteam, eines der besten, aber ein Rennfahrer träumt immer davon, für ein Werksteam zu fahren. Es ist sinnlos, das zu verheimlichen, denn auch auf wirtschaftlicher Ebene ist die Verbesserung erheblich. Wenn du in ein Werksteam gehst, wirst du direkter behandelt und bekommst viel mehr Geld.”

Frage: “Wie sieht eigentlich Ihre eigene aktuelle Situation in der Formel 1 aus?”

Brivio: “Derzeit arbeite ich bei Alpine im Formel-1-Team und ich bin außerdem für die Fahrerakademie verantwortlich. Wir haben dieses Jahr neun Fahrer im Programm, vom Kartsport über die Formel 4, die Formel 3 bis in die Formel 2. Abgesehen davon kümmere ich mich um neue Projekte, die bei uns bei Alpine unter der Bezeichnung ‘Racing Expansion’ laufen. So habe ich beispielsweise an der Planung des Dakar-Projekts mit Dacia gearbeitet.”

Frage: “Im Formel-1-Team von Alpine hat es in letzter Zeit viel Bewegung und Veränderungen gegeben, nicht wahr?”

Brivio: “Ja, es gab einige Veränderungen im Management. Es wurde eine gute positive Energie geschaffen, die Rollen sind klarer verteilt und hoffentlich wird die neue Organisation so bald wie möglich funktionieren.”

Frage: “Werden Sie eines Tages in die MotoGP-Szene zurückkehren?”

Brivio: “Ich weiß es nicht. Es geht mir sehr gut und ich habe die Entscheidung getroffen, in die Formel 1 zu wechseln, weil ich sehr neugierig war und eine andere Welt sehen wollte. Ich konnte mir nicht erklären, warum es 700 Leute braucht, um zwei Autos ins Rennen zu schicken. Und ich war neugierig zu erfahren, wie eine Organisation dieser Größe funktioniert. Im Laufe der Jahre habe ich viel gelernt, sowohl im Team selbst als auch in der Akademie, die immer in Kontakt mit der Formel 1 steht. Ich habe viel gelernt und einige sehr gute Leute kennengelernt. Das ist eine tolle Erfahrung.”

Frage: “Aber was ist, wenn sich eine Gelegenheit ergibt?”

Brivio: “Ich bin wie gesagt sehr glücklich, bei Alpine zu sein und diese Welt der Formel 1 zu leben. Die genieße ich und die gibt mir viel. Wenn sich eine Gelegenheit ergeben würde, würde ich sie in Betracht ziehen? Ja. Würde ich sie annehmen? Ich weiß es nicht. Man sollte aber niemals Nie sagen.”

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