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Mobilitätswende: Eine Abrechnung mit dem Auto

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Mobilitätswende: Eine Abrechnung mit dem Auto

Wenn Schildkröten und Ameisen die Straße überqueren, wird es heikel. Sie sind schlecht zu sehen, nicht die schnellsten, wenig respekteinflößend. Schlimm genug für ein Tierduo. Aber was, wenn jetzt eine Mobilitätsexpertin kommt und verrät, dass Ameise und Schildkröte taktische Manöver sind? Kindern im Kita-Alter versucht man so beizubringen, sicher die Straße zu überqueren. Die Schildkröte: Kind schiebt Hals und Kopf vorsichtig an den Stoßstangen parkender Autos vorbei, bis die Luft rein ist. Die Ameise: eine Gruppenübung, bei der Erzieher „Jetzt alle Ameise!“ rufen, auf dass die Kinder ihre Zweierreihen aufbrechen, sich zur Perlenkette ordnen und an den fetten Autos vorbeischieben, die den Gehweg zuparken. Autos gegen Kinder im Survival-Modus? Die Sympathien sind klar verteilt.

Für Katja Diehl, die diese Taktiken in ihrem Buch „Raus aus der Autokratie – Rein in die Mobilität von morgen“ beschreibt, sind sie das Sinnbild einer „domestizierten Kindheit“ und Ausdruck einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung. Autos genießen Privilegien, die allen, aber besonders Kindern, Freiheit und Zukunft raubten. Anstatt ihre Nachbarschaft spielend entdecken zu können, müssen sie permanent aufpassen, nicht unter die Räder zu geraten. In Oslo wachsen Büsche an Kreuzungen nur noch bis zur Augenhöhe Dreijähriger, erklärt die Autorin. Ein stadtplanerischer Perspektivwechsel, dem sich das autoverrückte Deutschland vehement verwehre. „Auto oder nichts“ sei hierzulande die Devise. Von echter Wahlfreiheit darüber, wie man sich von A nach B bewegen möchte, könne keine Rede sein. 26 Millionen Erwachsene und Kinder besäßen in Deutschland ohnehin keinen Führerschein. Mobil wollen sie trotzdem sein. Schon allein deshalb müsse man ihnen Platz, sichere Wege und alternative Verkehrsmittel bieten. „Mobilitätswende ist kein Umwelt-, sondern ein Gerechtigkeitsprojekt“, schreibt Diehl. Stattdessen bewegten sich die Deutschen „unfrei in Stahlschachteln“ durch verstopfte und stinkende Straßen, und weder E-Fuels noch autonome Fahrzeuge oder Elektroautos könnten daran etwas ändern.

Argumente, vergraben unter Bauchgefühlsbekundungen

Zu zeigen, wie es so weit kommen konnte und wie es besser ginge, ist Ziel des Buchs. Der Aufruf: „Wir müssen weniger Wagen wagen.“ Das war in ähnlicher Weise schon das Konzept von Diehls erstem Sachbuch, das vor zwei Jahren erschienen ist, „Autokorrektur“ heißt und zeigt, dass die Weiterentwicklung eines Wortspiels einen guten neuen Buchtitel, aber nicht zwangsläufig ein gutes neues Buch abgibt. Denn in „Raus aus der Autokratie“ schafft es die Autorin, ihre wichtigsten Argumente (Klima, Lärm, Kosten, Platz, Stadtplanung), die im Vorgänger noch engagiert, aber klar vorgetragen wurden, unter zusammengeklaubten Bauchgefühlsbekundungen zu vergraben.

Da trägt das Auto eine Mitschuld an der Spaltung der Gesellschaft, schließlich begegne man sich nicht mehr zufällig am Gartenzaun. Der von der Autoindustrie angestachelte Geschwindigkeitswahn sabotiere die Inklusivität der Bahn. „In anderen Ländern fahren die Züge etwas langsamer, und dann geht das technisch einfacher mit der Barrierefreiheit.“ Die Autolobby und die Werbeindustrie seien der einzige Grund, warum Menschen Autos mit Freiheit verknüpften, verdächtig sei es ja schon, dass es ein Genre namens „Roadmovie“ gebe.

Das Auto als große Manipulationsmaschine? Diehl assoziiert sich so durch die Mobilitätswelt. Und landet etwa bei Gedanken wie diesem: „ Das Auto okkupiert die Zeit, die wir für das Hinterfragen der Abhängigkeit vom Auto benötigen würden. Für die Autoindustrie entstand da ein sicher hilfreicher Teufelskreis.“ Im Rennen um den großen Denkzeit-Raub fielen einem zuerst ein paar andere Technologien ein. Entscheidender ist aber, dass sich die Autorin damit in Widersprüche verstrickt, verweist sie doch selbst immer wieder darauf, Autos müssten „Stehzeuge“ heißen, weil neunzig Prozent von ihnen doch nur herumstehen, was Ressourcen und Platz verschwende.

Empörungsreflexe statt Studien

Das klingt dann aber eher nach Achtlosigkeit und der Macht der Gewohnheit denn nach geistiger Dauerokkupation. Dann wieder behauptet sie, Eltern würden mehr Zeit am Steuer verbringen als mit der Versorgung ihrer Kinder. Und mehr noch, ist hier doch zu lesen, wer seine Kinder auf die Rückbank des Autos packe, „ohne direkten Blick- und Hautkontakt zur Bezugsperson“, der schade ihrer psychologischen Entwicklung. Woher diese Erkenntnis kommt, verrät Diehl nicht.

Anstatt Studien nachvollziehbar für die Notwendigkeit einer Mobilitätswende sprechen zu lassen, setzt Diehl zu oft auf Empörungsreflexe und darauf, dass man schon nicht so genau hinschaut. Abenteuerlich wird es etwa dort, wo es um das Gesundheitsrisiko durch Autos geht. Zum Beispiel verweist sie auf Schätzungen dazu, wie viele Menschen durch verschmutzte Luft in Innen- und Außenräumen jährlich sterben. Es seien zwischen 6,7 und 7 Millionen. Sie bettet diese Zahlen in einen Abschnitt ein, in dem es um die Luftverschmutzung durch Autos geht. Sie suggeriert damit: Seht her, wie viele Todesopfer gasende Autos auf dem Gewissen haben. Nur ist das keine zulässige Deutung aus den Zahlen, die sie vorbringt. Die beziehen sich nämlich auf die Weltbevölkerung. Dass selbst die Luft am Stuttgarter Neckartor kaum mit den Smogglocken von Neu Delhi oder Lahore vergleichbar ist, wird wohl auch Diehl wissen.

Katja Diehl: Raus aus der AUTOkratie. Rein in die Mobilität von morgen.S. Fischer Verlag, Frankfurt 2024. 352 S., 20,– €.

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