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Vollbremsung kann nicht jeder: Ein Sicherheitstraining für Radfahrer im Selbsttest

Sachsenweit waren in der ersten Jahreshälfte mehr als 2.000 Radfahrer in Unfälle verwickelt. Kurse bieten Übungen zum Bremsen, Balance halten und Ausweichen. Was bringt es?

vollbremsung kann nicht jeder: ein sicherheitstraining für radfahrer im selbsttest

Balance halten – beim Fahrradsicherheitstraining wird diese Fähigkeit ordentlich auf die Probe gestellt. © Foto: SZ/Veit Hengst

Der Ball ist der Klassiker. Der Ball, der auf die Straße rollt. Genauso wie das Kind, das ihm folgt. Die Vollbremsung, die nötig ist, um beide nicht zu überfahren. Ja, schon hundert Mal gehört, denke ich. Kann ich doch alles. „Wirklich?“, fragt Uwe Nestler. „Warum nicht?“, frage ich zurück. Wenige Minuten später weiß ich, warum. Nicht umsonst sitze ich heute in einem Fahrsicherheitstraining für Radfahrer.

Uwe Nestler ist Verkehrssicherheitsexperte und Referent für Berufsgenossenschaften. Die BGs tragen die gesetzliche Unfallversicherung für ihre Mitgliedsunternehmen. Heute steht er im Auftrag der BG ETEM vor Mitarbeitenden der DDV Mediengruppe. Keiner von uns kommt da an Klassikern wie dem mit der Vollbremsung vorbei. „Am Ende ist alles Physik“, sagt der Sicherheitsexperte und ruft uns einfache Rechnungen zurück ins Gedächtnis. „Die Reaktionszeit, die ein Mensch braucht, bis er bremst, beträgt ungefähr eine Sekunde“, sagt er. In dieser Zeit bewegt man sich also ungebremst weiter. „Um diesen sogenannten Reaktionsweg zu berechnen, hilft die Faustformel Geschwindigkeit geteilt durch zehn, multipliziert mit drei.“ Macht bei 30 km/h neun Meter Weiterfahrt. Das gilt sowohl für Auto- als auch Radfahrer.

Anhalteweg = Reaktionsweg + Bremsweg

„Dann steht man aber noch nicht, sondern erst jetzt greift die Bremse, beginnt also der eigentliche Bremsweg“, sagt Uwe Nestler. Der errechnet sich etwas komplizierter. Fakt aber ist: Der Bremsweg vergrößert sich im Quadrat zur Geschwindigkeit, das heißt: Bei doppelter Geschwindigkeit wird der Bremsweg viermal so lang. In unserem Beispielfall käme ein Auto, das eine Vollbremsung macht, erst nach gut 13 Metern zum Stehen – wenn der Fahrer nicht abgelenkt war und sofort voll auf die Bremse gestiegen ist. Uff, denke ich. Mal eben als Radfahrer auf die Straße schnippen? Plötzlich erscheint mir das, was auch ich ab und an praktiziere, kaum noch eine gute Idee.

Die Zahlen sprechen ebenso gegen derartige Manöver: Laut Statistischem Landesamt registrierte die Polizei in Sachsen von Januar bis Ende Juni 2.048 verunglückte Radfahrer, 16 von ihnen kamen ums Leben. Im gesamten Jahr 2022 waren es 22 Tote bei ähnlich hohen Unfallzahlen. Von „schwächeren Verkehrsteilnehmern“ will Nestler dennoch nichts hören. „Ein Autofahrer, der nicht so gut hört, was draußen los ist, dessen Sicht durch die große A-Säule im Fahrzeug beschränkt ist und der wenig Bewegungsfreiheit hat, ist nicht unbedingt stark, auch wenn er geschützter in seinem Mercedes sein mag.“ Achtsamkeit und gegenseitige Rücksichtnahme seien daher unablässig.

Multitasking geht schlecht

Wer Rücksicht nehmen will, muss konzentriert sein. Bin ich doch, meine ich und starre auf eine Grafik mit vielen Verkehrsschildern, die Nestler vor uns an die Wand projiziert hat. Ein Schild kommt mehrmals vor, mal gedreht, mal auf dem Kopf stehend. Wir haben eine Minute Zeit, um alle derartigen Schilder zu zählen. Schaffe ich locker. Dann aber spielt Nestler nebenher Verkehrsfunkmeldungen ab, wir sollen zuhören und währenddessen wieder auf Schilderjagd gehen. Die Minute scheint zu fliegen, während mir Dinge wie „A3 voll gesperrt, fünf Kilometer Stau vor Aachen, keine freien Parkplätze mehr in Baden-Baden“ im Kopf herumschwirren. Ich zähle zwei Schilder zu wenig, habe manche Infos nicht mehr parat. Bei den anderen sieht es nicht besser aus. Uwe Nestler ist indes zufrieden. „Niemand kann wirklich perfekt Multitasking. Warum versuchen wir es dann so oft, wenn wir im Straßenverkehr unterwegs sind?“ Als Antwort bekommt er betretenes Schweigen.

Wenig später stehen wir draußen auf dem abgesperrten Parkplatz, wo schon Hütchen, Rampen und Kegel auf unsere Radfahrkünste warten. Ich setze meinen Helm auf und stelle ihn fester. Denn seit heute weiß ich: Der Helm sollte nicht vom Kopf rutschen, wenn man ihn nach vorn neigt, ohne den Kinnriemen geschlossen zu haben. An dem ziehe ich auch, denn mehr als eine Fingerbreite sollte nicht Platz sein zwischen Haut und Bändchen. So viel Zeit muss sein, „schließlich geht es im Zweifel ums eigene Leben“, sagt Nestler. Dieselbe Meinung vertritt er bei reflektierenden Jacken und Westen – keine modischen Highlights, aber gerade in den dunkleren Monaten ein Garant dafür, rechtzeitig von anderen Verkehrsteilnehmern gesehen zu werden, Stichwort Bremsweg.

Bremsen will gelernt sein

Bevor wir losradeln dürfen, stellt Uwe Nestler wieder eine Frage. „Wo ist Ihre Hinterrad- und Ihre Vorderbremse?“ Ich kann nicht sicher und schnell genug antworten, zu automatisiert ziehe ich beide Bremsen, wenn ich anhalten will. „Es gibt keine Norm, die vorschreibt, auf welcher Seite welche Bremse angebracht sein soll“, sagt unser Coach. Aber wissen sollte man es, denn die Hinterradbremse ist die deutlich sanftere. Wer dagegen zu stark die Vorderradbremse betätigt, riskiert durch das blockierte Rad schwere Stürze.

Wir üben bremsen, ich ziehe wie gewünscht nur die bei mir rechts befindliche Hinterradbremse richtig durch. Der Reifen schleift ordentlich, aber ich komme gut zum Stehen. Schritt zwei: mit beiden Bremsen bremsen, hinten ohne Gnade, vorn mit mehr Gefühl, aber bestimmt. Dazu Körperspannung aktiviert und, ganz wichtig, Blick geradeaus. „Instinktiv will sich unser Körper dorthin bewegen, wo wir hinschauen“, sagt Nestler. „Fängt der Blick an zu eiern, machen wir das auch.“ Das wiederum wird im Straßenverkehr schnell gefährlich.

Der Tipp mit dem Blick hilft mir enorm beim nächsten Punkt, dem ganz langsamen Fahren. Wie von Nestler geraten, lasse ich dabei die Rückradbremse konstant schleifen. Ich leide zwar etwas mit meinen Gummibremsbacken, doch letztlich bringt immer wieder kurz Bremsen anziehen und lösen zu viel Unruhe und Instabilität mit sich. Genauso wie der Blick schräg nach unten vorn, den ich anfangs wieder an den Tag lege und dadurch beginne, in Zeitlupe Schlangenlinien zu fahren. Uwe Nestler holt mich mit einem „Nach vorn gucken!“ zurück in die Balance.

Der Blick gibt die Richtung vor

Die Balance ist auch nötig auf der Wippe, einem gut 30 Zentimeter breiten und anderthalb Meter langen Brett. „Der sicherste Weg, da runterzufallen, ist, den Rand, von dem man fürchtet zu rutschen, mit den Augen zu fixieren“, sagt Nestler mit einem Schmunzeln. Also lieber beherzt mit etwas Schwung und entschieden geradeaus gerichtetem Blick drüber. Uff, geschafft. Mit etwas Adrenalin im Körper klappt die folgende Slalomstrecke ganz gut, beim engen Kurvenfahren fühle ich mich aber nicht sehr wohl. Besser klappt es, kleine Hütchen von einem Kegel mit einer Hand aufzusammeln und wieder abzusetzen. All das schult die Balance, die man zum Beispiel braucht, um unvorhergesehene Hindernisse auf Radwegen zu umkurven.

An einem Hindernis kommt man in Städten wie Dresden aber nicht vorbei, sondern nur drüber: Straßenbahnschienen. Mein Knie erinnert sich ungern an diese Begegnung vor vielen Jahren. Und nun liegt wieder eine vor mir, besser gesagt, ein einer Schiene nachempfundenes Hindernis. „Immer schräg queren, dann kann nichts passieren“, rät Nestler. Ok, das wusste ich. Unterm Strich habe ich auch nicht viel Neues gehört heute. Ich fahre seit Jahren pro Woche rund 100 Kilometer Rad. Und doch: Es ist etwas anderes, all die Theorie irgendwie im Hinterkopf zu haben, als sie klar in Zahlen verpackt zu hören. Selbst in speziellen Übungen die eigene Balance zu testen und auf den Boden der Tatsachen geholt zu werden. Und dabei zu erfahren, dass man weder die Physik überlisten kann noch sich selbst überschätzen sollte.

Viele Ältere haben Nachholbedarf

Gerade ältere Menschen, die lange nicht auf dem Rad gesessen haben und nun mit einem E-Bike durchstarten wollen, hätten oft Nachholbedarf, sagt Nestler. Die Hälfte der sächsischen Fahrradtoten im ersten Halbjahr waren E-Biker. Und die Mehrzahl der Verunglückten über 65 Jahre alt.

Das Problem: Kurse für Erwachsene wie die von Berufsgenossenschaften sind nicht von Einzelpersonen buchbar, sondern werden von Arbeitgebern organisiert. Beschäftigte, die Interesse haben, können sich an ihre Personalverantwortlichen wenden. Die Sächsische Verkehrswacht dagegen bietet lediglich im Rahmen von Stadtfesten, Radsportevents und zum sächsischen Verkehrssicherheitstag im Juli Aktionen rund ums sichere Radeln an. Auch der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) unterhält in Sachsen nur eine Radfahrschule, in Leipzig. Zumindest bei den Kindern sieht es aber besser aus: Die Fahrradausbildung gehört schon seit vielen Jahren in der vierten Klasse verpflichtend zum Lehrplan.

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