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Käfer, Golf und Volvo: Die verrückten Geschichten der Westautos in der DDR

In seinem neuen Buch erzählt der gebürtige Sachse Eberhard Kittler, wie Autos aus dem Westen in den Osten kamen – und was diese Autos heute wert sind.

käfer, golf und volvo: die verrückten geschichten der westautos in der ddr

VW Golf in der DDR: ein Auto, mit dem der Besitzer mindestens interessierte Blicke erntete. © Klaus Zwingenberger

Eins steht für den Automobilhistoriker Eberhard Kittler fest: „Der Mangel an Autos und die langen Wartezeiten auf Neuwagen sind einer der Sargnägel der DDR gewesen.“ Die extremen Fristen zwischen Bestellung und Auslieferung eines Trabant oder Wartburg sind Legende und werden heutzutage gern noch übertrieben.

Dabei gab es etwas, das im Arbeiter-und-Bauern-Staat noch schwieriger zu ergattern war: ein Westauto. Gerade mal 100.000 Fahrzeuge aus der Produktion des Klassenfeindes rollten kurz vor der Wende auf den Straßen zwischen Zittau und Zingst. Kittler, 1987 in die BRD ausgereist und später langjähriger Chef der Oldtimer-Sparte bei Volkswagen in Wolfsburg, hat über diese Autos und ihre Besitzer ein lesenswertes Buch geschrieben. Dabei räumt der 68-Jährige mit einigen weit verbreiteten Gerüchten und Mythen auf.

Herr Kittler, wie kamen Volkswagen und andere Westautos in die DDR?

Zum einen waren sie schon da. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen viele VW-Kübelwagen in den Wäldern, gerade auch in Sachsen. Findige Leute haben sie sich geholt und wiederaufgebaut. Es gibt die Legende, dass man in der DDR keinen Kübelwagen hätte haben dürfen. Das stimmt nicht. Im Gegenteil: Man konnte mit diesen Autos sogar Geld verdienen.

Wie denn?

Beim Dreh von Defa-Filmen. Dort brauchte es für die Darstellung des bösen Nazis auch den entsprechenden Wagen. Teilweise schrieben die Zulassungsstellen der Bezirke Halter von Fahrzeugen aus „imperialistischer Produktion“ an, wenn etwa das Fernsehen eine Straßenszene aus Westdeutschland nachstellen wollte. Die Nutzung der Autos wurde ganz normal honoriert.

Das heißt, der Besitz von Westautos war nicht verboten, sondern nur verpönt?

Genau so. Es war viel weniger verboten, als heute kolportiert wird. Dazu muss man bedenken, dass in den 1950ern die Grenzen noch offen waren und Autos offiziell eingeführt wurden. Erst im Lauf der Zeit haben die Behörden erkannt, dass sich hier Devisen verdienen lassen.

Dann gab es natürlich Leute mit Sonderrechten. Künstler und Kirchenleute zum Beispiel. Auch durch Umzüge, Schenkungen und Erbschaften kamen Volkswagen ins Land. Es gab übrigens mehr als 20 private VW-Servicebetriebe. In Dresden waren das die Firma Schräger und die Firma Richter, später Pattusch.

Ab wann kamen Autos über Genex in die DDR?

Ab Ende der 1970er.

Erklären Sie mal für Spätgeborene, was Genex war und wie das funktionierte.

Genex war eine staatliche Außenhandelsorganisation. Wenn Verwandte – oder wer auch immer – bei Genex D-Mark einzahlten, konnten sie sich aus einem Katalog aussuchen, was sie ihren Lieben in der DDR schenken wollten. Die Lieferzeiten für Autos betrugen gerade mal zwei Monate – ein Klacks zu den Wartezeiten auf ein Auto im Osten. Was nicht ging, war, dass der durch „Extraleistungen“ zu D-Mark gekommene Handwerker bei Genex einkaufen konnte. Solche Leute mussten andere Wege gehen.

Können Sie mal ein Beispiel geben?

Es gab im Leipziger Raum den Rennfahrer und Handwerksmeister Hartmut Thaßler. Der hatte sich auf die Fertigung von Glasfaserkunststoffteilen spezialisiert. Thaßler hat 1977 den einzigen Porsche 911 Turbo der DDR importiert. Dabei hat ihm ein nordafrikanischer Student geholfen. Weil der frei reisen durfte, konnte der das Auto aus der BRD überführen. Das Auto steht heute in einer Privatsammlung im Harz.

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Geht nicht, gibt’s nicht: Der 911 turbo von Hartmut Thaßler war der einzige Porsche dieses Typs in der DDR. © Sammlung Kittler

Gab es noch mehr solche schier unerreichbaren Exoten?

Ja, unter anderem mindestens zwei 300-SL-Flügeltürer von Mercedes. Einer davon war ebenfalls in Leipzig zugelassen.

Bleiben wir mal bei den Glücklichen, die einen Genex-Golf bekamen…

Moment! Reden wir von Genex oder von den 10.000 Golfs, die 1978 ins Land kamen und für DDR-Mark zu kaufen waren? Letztere sind die interessantere Geschichte…

Dann erzählen Sie erst die. Wieso kamen so viele Volkswagen ins Land?

Zunächst muss erwähnt werden, dass die langen Lieferfristen zur extremen Überalterung des Fahrzeugparks geführt haben. Ein Großteil der Produktion ging für Ersatzteile drauf. Es fehlte an Geld für Innovationen. In diese Situation hinein haben die Machthaber überlegt, was zu tun sei. Insbesondere in Berlin, wo ja ständig Westautos rumfuhren.

Und die Lösung war?

Ein Beschluss zur „Internationalisierung des Straßenbildes“. Also die Lieferung von 10.000 Golfs. Die meisten gingen nach Berlin, nur wenige in die 14 Bezirke. Parallel dazu wurde in jedem Bezirk eine Werkstatt eingerichtet. Übrigens stimmt es nicht, dass Funktionäre und Parteigenossen diese Autos bekamen.

Sondern?

Man wollte das Volk nicht weiter verärgern. Die Autos wurden vor allem sogenannten Bestarbeitern angeboten. Das waren beispielsweise jene, die in Berlin wichtige Bauprojekte vorantrieben, etwa den Stadtbezirk Marzahn errichteten. Weil ich damals dort als Bauleiter gearbeitet habe, weiß ich, dass einige dieser Berechtigten auf den Golf-Kauf verzichtet haben.

Warum?

Aus drei Gründen. Zum einen wäre man sofort im Fokus gewesen. Denn die Autos bekamen anfangs eine bestimmte Nummernschild-Charge mit dem Kürzel „IBN“. Das wurde im Rest der Republik mit „Ich bin neureich“ übersetzt. Was gar nicht stimmte – ich komme gleich noch mal zu den Preisen. Parallel führte die DDR 1.000 Volvos ein. Der kostete mindestens 42.000 Mark und bekam „IBM“ aufs Kennzeichen: „Ich bin Millionär“. Wer mit so einem Auto vorfuhr, erschien also in einem merkwürdigen Licht.

Und die anderen Gründe für den Verzicht der Bestarbeiter?

Niemand konnte sich vorstellen, dass diese Autos auf den Schlaglochpisten der DDR durchhalten würden. Doch sie taten es. Was eine Bestätigung der VW-Qualität zu dieser Zeit darstellte. Der dritte Punkt war die Frage, was im Schadensfall passiert. Wer hilft mir? Wo kriege ich Ersatzteile her? Muss ich die vielleicht in D-Mark bezahlen? Das hat viele abgehalten.

käfer, golf und volvo: die verrückten geschichten der westautos in der ddr

Eberhard Kittler ist gebürtiger Görlitzer und seit 1980 Journalist. Von 2009 bis 2021 war er in leitender Funktion in der Traditionsabteilung von VW, unter anderem als Konzernbeauftragter Volkswagen Classic, tätig. Er lebt in Braunschweig. © Sammlung Kittler

Was hat so ein Golf gekostet?

Die DDR-Führung wollte natürlich eine gewisse Kaufkraft abschöpfen. Also wurde der Golf anfangs für 30.000 Mark angeboten. Zum Vergleich: Ein Wartburg kostete rund 24.000 Mark. Allerdings soll sich der sowjetische Botschafter eingemischt haben. Denn der GAZ-24 Wolga kostete damals ebenfalls 30.000 Mark. Seine Kritik: Man könne nicht einen Kleinwagen zum Preis eines Wolga anbieten! Ob es wirklich so gewesen ist, weiß ich nicht. Wenn nicht, ist es zumindest eine schöne Anekdote.

Auf jeden Fall wurde der Preis für den Golf ohne Zwang gesenkt, sodass das Basismodell ab 19.000 Mark zu haben war. Entsprechende Kaufbelege sind im Buch abgedruckt. Es gab zwei verschiedene Benziner und einen Diesel. Letzterer kostete 25.000 Mark. Die gleichen Autos haben in Westen jeweils die Hälfte gekostet.

Und der Genex-Golf, den es ab Ende der 1970er-Jahre gab?

Der lag immer rund 2.000 D-Mark über dem regulären West-Preis.

Zu welchen Preisen sind solche Golfs dann weiterverkauft worden?

Zum Vielfachen des Neupreises. Mir ist glaubhaft versichert worden, dass mancher Weiterverkauf 100.000 Mark gebracht hat.

Warum hat die DDR ausgerechnet mit Volkswagen dieses Geschäft gemacht?

Bei Fiat in Italien oder Peugeot in Frankreich wollte man das, was Geschäftsleute gemeinhin wollen: Geld. VW hat sich dagegen auf Kompensationsgeschäfte eingelassen. So ging ein Teil des sowjetischen Erdöls direkt in den Westen, genauso aber Werkzeugmaschinen oder Feinmechanik aus DDR-Produktion. Das führte so weit, dass Anfang der 1980er-Jahre in den VW-Kantinen in Wolfsburg Dresdner Christstollen verabreicht wurde. Wenn man noch mehr zum Verscherbeln gehabt hätte, wären vielleicht auch mehr Golfs geliefert worden als diese 10.000.

Und wie endet die Geschichte, abgesehen davon, dass die Wende kam?

Letztlich hat man sich immer mehr in die Abhängigkeit von Volkswagen begeben.

Was meinen Sie damit?

Das 1984 beschlossene Motorengeschäft, was dazu führte, dass 1988 der Wartburg und 1990 der Trabant mit Viertaktmotor auf den Markt kamen. Die Kooperation mit der DDR gipfelte schließlich darin, dass der Westen irgendwann vorschlug: „Wir helfen euch, ein neues Modell zu machen.“

Welches denn?

Den X03. Das war ein Minivan auf Polo-Basis, von Giugiaro in Italien entworfen. Dieses Auto wäre wirklich exportfähig gewesen, wenn es wie geplant 1995 fertig entwickelt worden wäre. Leider sind die beiden existierenden Prototypen in der Wendezeit verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Es ist eine Tragödie, dass es mit diesem Projekt nicht weiterging. Stattdessen hat VW 1990 in Zwickau-Mosel mit der Polo-Montage begonnen.

käfer, golf und volvo: die verrückten geschichten der westautos in der ddr

Seltenes Bildmaterial des X03: Laut Kittler stellte VW-Konzernchef Carl H. Hahn dem DDR-Außenhandelsminister Ende 1988 einen dreitürigen Entwurf mit Sachsenring-Logo vor. Das hier ist die fünftürige Variante. © Ital Design

Sind die seit den 1970ern in die DDR importierten Golf-Modelle heutzutage eigentlich begehrte Oldtimer, die höhere Preise erzielen?

Der höhere Preis lässt sich allenfalls mit der Tatsache rechtfertigen, dass diese Autos oft in besserem Zustand sind als ihre Schwestermodelle, die im Westen gefahren sind. Mit dem Label „DDR-Auto“ kriegt man heute keinen Euro extra. Technisch unterscheiden sich die Autos ja nicht. Womit wir wieder bei einem Mythos wären: Es stimmt nicht, dass VW minderwertige Fahrzeuge mit Dünnglasscheiben und geringerer Blechstärke geliefert habe. Aber sorry: 10.000 Autos sind damals weniger als eine Wochenproduktion bei VW gewesen.

Am 13. Juni liest Eberhard Kittler ab 18.30 Uhr im Museum für sächsische Fahrzeuge in Chemnitz. Eintritt: sechs Euro. Reservierung: [email protected]

Eberhard Kittler: Traumauto Volkswagen – Wie Käfer, Golf und Bulli in die DDR kamen, Motorbuch Verlag, 255 S., 49,90 Euro

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