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Friedrichstraße wieder für Autos freigegeben: Was Berlin durch die Öffnung entgeht

friedrichstraße wieder für autos freigegeben: was berlin durch die öffnung entgeht

Während des Fototermins hat Natascha von Hirschhausen noch freundlich in die Kamera geschaut. Doch danach hält ihre gute Laune nicht lange vor. „Ich bin fassungslos“, sagt sie. Die junge Modedesignerin steht in dem Geschäft, das sie sich im Quartier 205 in Mitte eingerichtet hat. Sie sei hierhergezogen, weil die Friedrichstraße auf diesem Abschnitt damals schon ein Fußgängerbereich war, sagt sie. „Das passt zu meinem Konzept. Es war eine bewusste Entscheidung. Mein Unternehmen ist nachhaltig, und Innovation ist mir sehr wichtig.“ Nun denkt sie darüber nach, ob sie wieder wegzieht.

Denn in wenigen Tagen werden Bänke und Pflanzkübel, die auf der Fahrbahn stehen, weggeräumt. Zum 1. Juli tritt die Anordnung des Senats in Kraft, wonach auf dem 500 Meter langen Abschnitt zwischen der Leipziger und der Französischen Straße wieder Autos fahren. Mit der Ruhe und der sauberen Luft ist es dann vorbei.

Natascha von Hirschhausen hält das für anachronistisch, und sie fühlt sich dabei nicht allein. „Was in der Friedrichstraße geschieht, passt nicht in die Zeit“, sagt die 33-Jährige, die aus Schweinfurt stammt und an der Kunsthochschule Weißensee studiert hat. „Wissenschaftler, die sich mit der Zukunft großer Städte befassen, sprechen sich dafür aus, die Zahl der Autos zu verringern. Überall werden Innenstädte für die Menschen geöffnet. In Paris, Barcelona, Oslo und vielen anderen Städten bekommen Fußgänger mehr Platz. Ich frage mich, warum das in Berlin nicht möglich ist.“

Wie die Zukunft der Kleidung aussehen sollte, darüber hat die junge Frau, die mit dem Rad zur Arbeit fährt, klare Vorstellungen. Zero Waste Fashion, so nennt sie ihre Kollektion, die sie in ihrem Flagship-Store im gediegenen Shopping-Quartier zwischen der Friedrich- und der Charlottenstraße zeigt. Für ihre Mode verwendet sie Naturfasern, die auf ökologische und soziale Verträglichkeit geprüft worden sind. Produziert wird lokal, und sie achtet darauf, dass beim Zuschnitt kaum Stoff im Müll landet.

Was die Zukunft der Mobilität anbelangt, sei der autofreie Bereich vor dem Shopping-Quartier ein gutes Beispiel, sagt die Designerin. „Wann immer ich hier unterwegs bin, ist die Stimmung gut. Die Bäume und Blumen, die Sitzbänke – das ist wunderbar. Die Menschen scheinen es zu genießen.“

Ende Januar ließ der Bezirk Mitte die Friedrichstraße für Fußgänger öffnen. Radfahrer und E-Scooter sind erlaubt, Kraftfahrzeuge dagegen nicht. Doch das, was Natascha von Hirschhausen und andere als Modell für die Mobilität der Zukunft sehen, ist für nicht wenige Berliner ein Desaster. Für sie war schon die „Flaniermeile“, die unter Rot-Grün-Rot von Ende August 2020 bis zu ihrer gerichtlichen Aufhebung im vergangenen Herbst bestand, eine Katastrophe. Eine florierende Einkaufsstraße wurde durch ideologische Verbohrtheit der Grünen zum Notstandsgebiet– so lässt sich die Kritik zuspitzen.

„Ladenschließungen, Umsatzrückgänge, Besuchermangel, Stillstand, Ödnis, die Optik einer Dauerbaustelle – nichts davon erhöht die Aufenthaltsqualität in diesem Mitte-Bereich oder macht die Straße zu einer Flaniermeile“, stellt das Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße“ fest. Das bekannteste Mitglied ist die Weinhändlerin Anja Schröder aus der Charlottenstraße. Dort klagte man anfangs über mehr Verkehr – und jetzt über die Maßnahmen, die ihn verhindern oder ausbremsen sollen.

Es steht außer Frage, dass die damalige Verkehrssenatorin Regine Günther, Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (ebenfalls Grüne) und andere nicht immer glücklich agiert haben. Als sie 2020 mit den Anrainern ins Gespräch kommen wollten, erschien am selben Morgen ein Zeitungsbericht mit detaillierten Plänen für die „Flaniermeile“– die dann auch so umgesetzt wurden. Selbst Gutwillige fühlten sich überrumpelt und bevormundet. Damals begann die heutige Polarisierung.

Doch es wäre falsch, die autofreie Friedrichstraße als ausschließlich grünes Projekt abzutun. Es war der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC), der 2016 als Erster die Umgestaltung zur Fußgängerzone ins Gespräch gebracht hat. Dass die SPD die Idee anders als heute begrüßte und der SPD-Abgeordnete Tino Schopf 2019 sogar einen verkehrsberuhigten Bereich bis zum Checkpoint Charlie für denkbar hielt – auch das scheint heute vergessen zu sein.

Manja Schreiner, die Ende April die Grünen-Politikerin Bettina Jarasch als Verkehrssenatorin abgelöst hat, macht die Ankündigung der neuen Großen Koalition nun wahr. Weil sie der weiteren Debatte nicht vorgreifen will, lasse sie die Sperren wegräumen, sagt sie. Auch aus juristischen Gründen – um zu vermeiden, dass aus 17 Widersprüchen ein erneutes Gerichtsverfahren wird. Die Christdemokratin hat ein Konzept für die historische Mitte angekündigt, im Herbst soll das Verfahren beginnen. Experten erwarten, dass es Jahre dauern wird, bis Maßnahmen umgesetzt werden.

Der Verband „Die Mitte“ habe sich über die Entscheidung der Senatorin gefreut, sagt ihr Sprecher Conrad Rausch. „Wir waren überrascht, wie schnell sie sie getroffen hat. Der Tenor unter unseren Mitgliedern ist: Gut, dass sich in der Friedrichstraße etwas tut“, berichtet er. „Die meisten sind happy – nicht, weil wieder Autos fahren dürfen, sondern endlich ein Plan erarbeitet werden soll.“

„Die Friedrichstraße wird seit Monaten schlecht geredet“, entgegnet Natascha von Hirschhausen. „Selbst Menschen, die selten oder gar nicht hierherkommen, regen sich über die Sperrung auf. Aus meiner Sicht ist es eine ideologische Diskussion. Positive Stimmen dringen in der Öffentlichkeit kaum noch durch. Auch andere Gewerbetreibende wollen nicht, dass hier wieder Autos fahren. Doch der neue Senat hat uns nicht gefragt.“

„Das Hin und Her hat mich auch genervt, und natürlich kann man über einzelne Gestaltungselemente diskutieren. Trotzdem ist das, was hier passiert ist, eine Chance für die Friedrichstraße“, pflichtet ein anderer Anrainer bei, der hier mit Rücksicht auf sein Mietverhältnis namenlos bleiben will. „Vielleicht ist es die letzte für die Gastronomie und den Einzelhandel, aber auch für Kunst und Kultur. Wenn wir es nicht hinbekommen, dass sich die Menschen hier gern aufhalten, wird die Straße nicht funktionieren.“

Die Folgen der Corona-Pandemie und der Internet-Boom hätten dem Einzelhandel auch anderswo geschadet, erklärt er. Lokale Faktoren kämen hinzu – allen voran die Mall of Berlin, nicht weit entfernt am Leipziger Platz. Sie sei die eigentliche Katastrophe: „Die Mall hat über 200 Läden, ihre Sogwirkung haben wir gespürt.“ Damit nicht genug: Das Quartier 206 in der Friedrichstraße stand viele Jahre unter Zwangsverwaltung, langfristige Mietverträge waren dem Vernehmen nach kaum möglich. Das Russische Haus hat seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine Ladenmieter verloren.

Schräg gegenüber residiert die Berliner Niederlassung des französischen Warenhauses Galeries Lafayette, seit 1996 einer der größten Anrainer der Friedrichstraße und ein Anziehungspunkt auch für internationale Touristen. Bisher hatten Beobachter den Eindruck, dass sich das Unternehmen aus der öffentlichen Diskussion heraushalten möchte. Vielleicht ging es zu viel um Politik, gab es zu viel Schaum vorm Mund. Diesmal allerdings hat es auf die Anfrage der Berliner Zeitung reagiert.

In dem Gebäude mit der markanten Glasfassade arbeitet auch Firmensprecher Fabian Winkelseßer. „Der Wegfall der Fußgängerzone vor unserer Tür kommt für uns so überraschend wie schon ihre wiederholte Installation. Für uns ist die nicht gegebene Planungssicherheit und fehlende Orientierung das größte Problem“, sagt er. „Zusammen mit anderen Anrainern waren wir seit Monaten mit der Planung verschiedener Aktionen auf der Friedrichstraße beschäftigt. Wir hätten zum Beispiel unsere traditionelle Peep Shoppingnacht, unsere Auftaktveranstaltung zum Christopher Street Day Berlin, gern zum Teil auf die Friedrichstraße verlagert und damit nicht nur für unsere Kund:innen einen besonderen Moment geschaffen.“

Das Warm-up am Abend des 22. Juli ist nicht die einzige Veranstaltung, die in der autofreien Friedrichstraße geplant war und nach der Entscheidung des Senats nun ersatzlos gestrichen werden muss. Schon der Plan, den Abschnitt in die Fête de la Musique einzubeziehen, musste gekippt werden. Das Straßenmobiliar mit rund 90 Teilen von der Sitzbank bis hin zum drei Tonnen schweren Pflanzkübel muss an andere Orte in Mitte umgesetzt werden. Das Tangotanzen, an dem an diesem Mittwochabend rund 200 Paare teilnehmen sollten, würde da nur stören.

Auch das Sommerkino unterm Sternenzelt „Les nuits blanches“, das die Straße in Zusammenarbeit mit dem Institut Français Berlin an drei Abenden beleben sollte, fällt aus. Das Vorhaben, auf dem schnurgeraden Abschnitt während der Fashion Week Mitte Juli einen Laufsteg aufzubauen und Mode zu zeigen – ebenfalls nicht möglich.

Im August sollte die Friedrichstraße zum Schauplatz eines World Streetfood Festivals werden – jetzt nicht mehr. Holmes Place wollten den autofreien Abschnitt abends für Outdoor-Fitnesskurse nutzen. Bodypump, Yoga, Zumba und andere Leibesübungen – auch daraus wird nichts. In der Schublade verschwindet ebenso die Idee, den Weihnachtsmarkt, der den Gendarmenmarkt wegen Bauarbeiten verlassen musste, in der Friedrichstraße als „Green Christmas Shopping“ wieder aufleben zu lassen.

Berlin bekommt Platz für den Autoverkehr zurück. Insofern wird die Friedrichstraße wieder zu einer ganz normalen Straße. Doch Berlin geht auch etwas verloren, und anderes bekommt die Stadt gar nicht erst. Berlin entgehen die Veranstaltungen, die dazu beitragen sollen, die Straße aus der Beliebigkeit zu holen und zu einer Marke zu machen. Zu einer Destination, die gern aufgesucht wird, weil sie etwas Besonderes ist.

Die Gastronomen haben die Chancen erkannt. „Für uns war es ein Schock, als wir von der Entscheidung des Senats erfahren haben“, sagt Jenny Seidler von Einstein Kaffee. Auch den Mitarbeitern des Unternehmens, das auf dem autofreien Abschnitt zwei Cafés betreibt, gehe das Hin und Her auf die Nerven. „Für uns ist die Friedrichstraße attraktiver, wenn sie für Autos gesperrt ist. Wir können eine viel größere Fläche nutzen, damit unsere Gäste Kaffee und Speisen unter freiem Himmel genießen können. Das beeinflusst natürlich auch unseren Umsatz und damit das wirtschaftliche Ergebnis.“

Ein Beispiel: Vor dem Einstein-Café im Quartier 205 sind derzeit 20 Tische und Stühle erlaubt. Wenn auf der Fahrbahn wieder Autos rollen dürfen, muss sich der Betrieb wie früher auf drei Tische mit Stühlen beschränken, mehr Platz ist auf dem Gehweg nicht. „Unsere Gäste wollen draußen sitzen. Wenn alle Stühle besetzt sind, gehen sie weiter.“

„Aus Sicht des Unternehmens ist klar: Was jetzt passiert, ist nicht gut“, sagt sie. Doch Jenny Seidler hat auch eine private Meinung: „Privat mochte ich die Friedrichstraße mehr, als sie für Autos geöffnet war. Ich finde, dass sie mehr Flair hatte.“

„Der Friedrichstraße fehlt es seit Jahren an einem stimmigen Gesamtkonzept. Explodierende Mietpreise, die Corona-Pandemie und das Hin- und Her mit der Fußgängerzone haben zum Weggang vieler namhafter Firmen geführt“, sagt Fabian Winkelseßer von den Galeries Lafayette. Ladenlokale stünden leer. Damit die Straße attraktiver wird, brauche es mehr als eine Fußgängerzone.

Natascha von Hirschhausen steht in ihrem Geschäft im Quartier 205 wieder am Zuschneidetisch. „Wenn zum 1. Juli alles weggeräumt wird und wieder Autos fahren dürfen, ist das für mich eine dystopische Vorstellung“, meint sie. „Ich frage mich, warum es nicht möglich war, die Bänke und Pflanzkübel wenigstens den Sommer über stehenzulassen. Offenbar sollten sich die Menschen nicht an den Zustand gewöhnen.“ Für sie sieht die Zukunft der Friedrichstraße nicht gut aus.

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