Hanna Paul, Leiterin Dummy-Testing, spricht über das Testprogramm der Stuttgarter und über die Besonderheiten der weiblichen Crash-Test-Dummys
Sie ist rund 1,50 Meter groß, wiegt 49 Kilogramm und verfügt über zahlreiche Sensoren an verschiedenen Körperstellen mit bis zu 150 Messpunkten bei den Dummys der neuesten Generation. Bereits seit 20 Jahren ist die sogenannte „Fünf-Prozent-Frau“ Fahrerin, Beifahrerin oder Fondinsassin bei Frontal-Crashtests von Mercedes-Benz – und gleichberechtigte Partnerin des klassischen männlichen Dummys Hybrid III 50 – das bedeutet: 50 Prozent aller Männer sind kleiner und leichter (1,75 Meter und 78 Kilogramm). Damit führte das Unternehmen den weiblichen sogenannten Dummy Hybrid III 5 ein, bevor er offiziell vom Gesetzgeber gefordert wurde. Er hat die Anthropometrie einer Frau mit weiblichen Brüsten und Beckenknochen. Nur fünf Prozent der amerikanischen Frauen sind laut der zugrunde liegenden Statistik kleiner oder leichter. Heute finden sich Testvorschriften mit der „Fünf-Prozent-Frau“ auch in Ratings von Verbraucherschutzverbänden und verschiedenen Gesetzen weltweit wieder. Ebenfalls seit zwei Jahrzehnten ist der weibliche Dummy SID-IIs bei Mercedes-Benz Crashtests im Einsatz. Er hat dieselbe Anatomie wie der Hybrid III 5 und ist speziell für Seitenaufprallversuche entwickelt. Anders als in den USA ist er in Europa bislang jedoch nicht gesetzlich vorgeschrieben.
120 Dummys in 21 Varianten absolvieren bis zu 900 Crashtests im Jahr
Rund um das Thema weibliche Dummys gibt es viele Fragen, die in der Öffentlichkeit aktuell diskutiert werden. Hanna Paul, Leiterin Mercedes-Benz Dummy-Testing, unterzieht sechs Mythen einem Faktencheck.
Mythos 1: Frauen sind im Auto nicht so gut geschützt wie Männer
Hanna Paul: Nein, das stimmt nicht. Zunächst zwei generelle Erkenntnisse aus den Unfalldatenbanken: Bei schweren oder tödlichen Verletzungen bestehen keine erkennbaren relevanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Und bei leichten Verletzungen gibt es im Einzelfall gewisse Unterschiede. Je nach Körperregion sind mal die Frauen (Beine/Füße und Schleudertrauma beim Heckaufprall) und mal die Männer (Kopf, Brust) stärker betroffen. Darüber hinaus haben Analysen unserer unternehmenseigenen Unfallforschung ergeben, dass bei Mercedes-Benz Fahrzeugen keine Auffälligkeiten in Richtung Frauen oder Männer bestehen. Das zeigt, dass die Auslegung der Mercedes-Benz Fahrzeuge im Realunfall funktioniert. Dies untermauert unsere Ansprüche im Sinne der „Real-Life Safety“-Philosophie.
Mythos 2: Es gibt Statistiken, die zeigen, dass Frauen schlechter geschützt sind
Mythos 3: In Crashtests werden vorwiegend männliche Dummys eingesetzt
Hanna Paul: Nicht bei Mercedes-Benz. Wir verwenden seit über 20 Jahren einen weiblichen Frontalaufprall-Dummy und einen weiblichen Seitenaufprall-Dummy bei unseren Crashtests. Dummys sind aber keine menschlichen Puppen. Sie sind Messinstrumente, die physikalische Kräfte und Wege messen. Gewicht und Größe der Dummy-Geschlechter werden von realen menschlichen Daten abgeleitet. Dabei ist der weibliche Dummy, abgestimmt auf die weibliche Anatomie, skaliert. Doch – und das ist entscheidend – die Kräfte, die bei Crashtests auf die Dummys wirken, werden in Verletzungsrisiken umgerechnet. Die Kalkulation dieser Risiken basiert auf den Verletzungsdaten von Männern und Frauen. Die gängigen Grenzwerte bei den weiblichen Dummys sind für dasselbe Verletzungsrisiko niedriger als bei den männlichen. Daher bilden die Dummys das Verletzungsrisiko von Männern und Frauen nach ihren jeweiligen anatomischen Gegebenheiten sehr gut ab. Das bedeutet: Größe und Gewicht der von Mercedes-Benz eingesetzten Dummy-Typen sind geschlechtsspezifisch.
Der Fünf-Prozent-Dummy hat zwar die Anatomie einer Frau, repräsentiert aber bezüglich der Verletzungsrisiken die Gruppe der kleinen Menschen – egal ob Frau oder Mann. In anderen Worten: Die Verletzungsrisiken sind menschlich – nicht männlich oder weiblich. Ähnliches gilt daher für die anderen Dummys: Der 50-Prozent-Mann ahmt zwar die Anatomie eines Mannes nach, repräsentiert aber genauso die Verletzungsrisiken einer durchschnittlichen Frau. Aktuell forscht die NHTSA daran, inwiefern Verletzungsrisiken vom Geschlecht abhängen. Die ersten veröffentlichten Ergebnisse bestätigen unsere Erkenntnisse, dass das Geschlecht nicht die wichtigste Einflussgröße auf die Verletzungshäufigkeit darstellt. Die heute genutzten Dummys sind demnach wirksame Messmittel für die Entwicklung von Sicherheitssystemen.
Mythos 4: Crashtest-Dummys sind nicht vielfältig genug
Mythos 5: Schwangere sind schlechter geschützt
Hanna Paul: Ein Systemvergleich in einer aktuellen Studie des ADAC zeigt, dass der normale Sicherheitsgurt sowohl die werdende Mutter als auch das ungeborene Kind bei einem Unfall gut schützt. Schwangere sind laut ADAC Unfallforschung beim Autofahren keinem höheren Risiko ausgesetzt als andere Autofahrerinnen. Der normale Dreipunktgurt kann, sofern korrekt genutzt, die werdende Mutter und das ungeborene Kind bei einem Unfall gut schützen.
Mythos 6: Simulationen machen physische Crashtests bald überflüssig
Hanna Paul: Das sehen wir nicht. Zwar kann die Berechnung der Kinematik und des Verformungsverhaltens die Anzahl von Gesamtfahrzeugversuchen deutlich reduzieren und die Entwicklung beschleunigen. Am Fahrzeugcrash führt aus mehreren Gründen aber kein Weg vorbei: Crashtests sind nötig, um die Simulationen, die mit vielen Annahmen durchgeführt werden, zu bestätigen. Außerdem sind sie gesetzlich oder von Ratings vorgegeben. Das Zusammenspiel aus Sensorik, Crash- und Dummy-Verhalten lässt sich im Gesamtfahrzeugversuch am besten absichern.
Die Insassensimulation berechnet, wie sich ein Dummy im Fahrzeug verhält. Darüber hinaus arbeitet Mercedes-Benz zusätzlich an sogenannten Mensch-Modellen (Human Body Model, HBM). Sie sollen die Anatomie des Körpers detaillierter abbilden – Knochen, Muskeln und Organe. So lässt sich im Gegensatz zum Dummy nicht nur eine Wahrscheinlichkeit für eine Verletzungsschwere, sondern die tatsächlich zu erwartende Verletzungsart in der jeweiligen Körperregion bewerten.