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Die beste Ducati

Ducati Multistrada V4 S – Reiseenduro, Radar-Tempomat, Totwinkelassistent, Koffer. Bye-bye Twin, hallo Ventilfedern. Warum die Multi dennoch eine echte Ducati ist, für uns sogar die beste? Klärt der Top-Test.

Die beste Ducati

Vor 18 Jahren wagte Ducati mit der ersten Multistrada etwas Neues. Zwar gebührt dem tapferen Terblanche-Entwurf nicht die Ehre, die Kategorie des “Crossover” erfunden zu haben, die fällt Yamaha zu. Doch die Idee, den in Bologna geschätzten Sportsgeist mittels Federweg, Sitzkomfort und Tankvolumen auf Schlechtweg-Touring auszudehnen – ihn, wenn man will, in die Realität zu holen –, hat ein neues, wichtiges Marktsegment nebst neuen Kunden erschlossen. Ein bedeutender Schritt hinaus in Richtung Vollsortimenter. Über zig Modellvarianten hat die Multistrada-Familie seither das Segment der Stelzen-Sportler in neue Leistungsregionen getragen, es entwickelt, definiert. Lange als vom Sportler abgeleiteter L-Twin, mit Desmodromik, im Gitterrohr, auf 17-Zöllern.

Seit einer Weile – manche sagen seit Audi – mischt sich zu den italienischen Werten eine gehörige Prise unitalienischer Pragmatismus. Vielleicht alternativlos, mindestens aber weitsichtig: Scrambler brachen das Leistungs-Dogma, DVT suchte Laufkultur, die Multistrada erhielt als 950 den ersten 19-Zöller der jüngeren Firmengeschichte. Die Panigale ersetzte das Gitterrohr durch Monocoque, brachte dann zwei extra Zylinder. Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung steht nun in Form der Multistrada V4 S vor uns. Ihr Granturismo-Motor ist zwar vom Superbike abgeleitet, seine Auslegung aber so grundverschieden, der Verzicht auf die Desmodromik ein so eindeutiges Bekenntnis. Vorne signalisiert der 19-Zöller die Abkehr vom Crossover: Mit V4 bezieht nun auch die “große” Multistrada unmissverständlich Stellung als Reiseenduro. Unmöglich, den Stellenwert der Multistrada V4 für Ducati zu überschätzen. Damit, werten Dank für Ihre Aufmerksamkeit, wäre der Schwenk zum Top-Test vollbracht.

Ducati Multistrada V4 S Travel & Radar für 24.140 Euro

Die Ducati Multistrada V4 S muss sich, sinnvoll wie umfassend ausgestattet mit “Travel and Radar”-Paket, bei einem Testfahrzeugpreis von 23.140 Euro keinen Vorwurf fehlender Exklusivität gefallen lassen. Wir sitzen auf: Im Sattel, der sich in der niedrigen von zwei Positionen auf noch moderaten 845 Millimetern befindet, bester Reiseenduro-Standard. Ein üppiges Platzangebot, der Tank mit seinen 22 Litern baut nicht übertrieben hoch, aber fein schmal, gestattet guten Kontakt. Rastenposition und Kniewinkel wirken stimmig. Wie im Segment üblich ist der Lenker breit, im Gegensatz zur krassen Multistrada Enduro nicht überbreit, und er liegt in der korrekten Höhe, mit der auch Normalos klarkommen. Alles zusammengenommen erinnert sie mehr an die gute 950er als an die 1200er/1260er, wirkt die V4-Multi im positiven Sinn auf ein noch immer ausgewachsenes Maß zurechtgespitzt. Man hockt integriert, aktiver. Die kompaktere Bauform des V4 erlaubt in der Tat ein anderes Motorrad. Auch hübsch: ein Tankfach, das zwar als tiefer Schacht daherkommt, aber ein Smartphone lädt und eine Kreditkarte beherbergt. Wer auf Mautstraßen unterwegs ist, wird das schätzen.

Wie man es von einem 20.000-Euro-plus-Motorrad nicht mehr anders erwartet, wird die S-Variante keyless angelassen. Historischer Moment, gespanntes Lauschen, Fühlen, als die erste Ventilfeder-Duc der Neuzeit startet. Und zwar mühelos, verglichen mit den mächtigen V2 hat der Anlasser spürbar weniger Aufwand. Außerdem, verglichen mit zu vielen Ducati der letzten Jahre, akustisch vornehm, zeitgemäß. Standgeräusch der Ducati Multistrada V4 S: 92 dB. Für Freunde des guten Klangs ist dennoch richtig was geboten, dafür sorgt der “Twin Pulse”-Hubzapfenversatz sowie die Bauform als V4 an sich.

Ist die Desmo-Abkehr spürbar?

Was spürt man von der Desmo-Abkehr? Darüber lässt sich informiert spekulieren. Auffällig weich und kultiviert läuft der Granturismo, im Standgas wie überhaupt, und das sowohl im Vergleich mit den Testastretta-V2 als auch mit dem Panigale-/Streetfighter-V4. Klar, auf 1.158 Kubik gewachsen, braucht der Kraftwürfel für 170 PS keine extremen Steuerzeiten, allein das beruhigt. Welchen Anteil an dem edlen Lauf je das Plus an Schwung, zahmere Nockenwellen oder die neue Ventilsteuerung hat? Müßig. Was zählt: Die Manier des Granturismo ist der Ducati Multistrada V4 S höchst angemessen. Und Kosten sinken. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal fällt weg – aber eines, das den meisten Besitzern höchstens auf der Werkstattrechnung als Posten “Desmo-Service” begegnen dürfte.

Klack, los. Auch auffällig, wie viel besser sich die überarbeitete, hydraulisch betätigte Kupplung dosieren lässt. Vor Erreichen der Betriebstemperatur zickte der Panigale-V4 da liderlich, auch die Testastretta-V2 erforderten mitunter gefühlvolles Einkuppeln. Jetzt: leichte Wonne.

Ein Prädikat, das sich ab hier wie ein roter Faden durch die Testnotizen der Ducati Multistrada V4 S ziehen wird. Cremig sortieren sich die Gänge per Quickshifter auf und ab, besonders im Drehzahlkeller hat ein Vierzylinder da einfach Vorteile. So lässt sich der Motor innerorts und im touristischen Modus stets im höheren Gang bewegen als die Twins, schreitet früher ruck- und rappelfrei zur Tat. Überhaupt Gasannahme und Ansprechen: piekfein. Je nach Fahrmodus (Urban, Enduro, Touring, Sport) verhalten, angemessen direkt bis zu spontan-bissig. Dabei stets sanft und auffällig lastwechselarm. Letzteres ein entscheidender Punkt für größte Fahrbarkeit.

165 PS Leistung auf dem Prüfstand

Wie ist’s um seine Kraft bestellt? Nun, dass bei nominell 170 PS, von denen der Prüfstand auch 165 findet, obenraus adäquat die Hütte brennt, versteht sich. Heilige Marie, dieses Spektakel! Hatte wirklich jemand Bedenken, man habe zu sehr gezähmt? Unwahrscheinlich, falls aber doch, lösen die sich allerspätestens auf, wenn die digitale Nadel die 5.000er-Marke passiert. Horizont und Kategorien sind eingrissen. Beleg: 200 Stundenkilometer werden mit der Ducati Multistrada V4 S aus dem Stand in 10,3 Sekunden erreicht, womit sich alle Fragen erübrigen. Deutlich größere Praxisrelevanz messen wir der ersten Drehzahlhälfte bei. Zwar zeigt der Vergleich der Leistungsdiagramme für den 1260er-V2 – der freilich nicht der strengeren Euro-5-Norm unterliegt – ein Plus ganz unten. Auf der Straße gleicht der V4 dies durch eine etwas kürzere Gesamtübersetzung aus, die dank der höheren Drehzahl möglich wird. So liegt der entscheidende Gewinn dann auch in der von unten bis oben harmonischeren Leistungsentfaltung. Laufruhig, schön linear, ohne Durchhänger, noch einmal mehr Reserve. Der fast perfekte Motor.

Bevor wir das “fast” klären, steht das Fahrverhalten an. Auch das die reinste Wonne. Denn als V4 setzt die Multistrada den von der 950er eingeschlagenen Weg hin zur unbedingten Fahrbarkeit fort. Ihre 17-Zoll-bereiften Vorgängerinnen setzten zuerst auf ausgeprägte Handlichkeit, die durchaus für massiven Fahrspaß gut ist. Doch das etwas kippelige, mitunter sperrige Lenkverhalten erfordert auf schlechten Straßen für flotte Fahrt fahrerisches Format. Die 1200/1260 Enduro wiederum fuhr zwar vorne gut auf 19 Zoll, litt dafür unter ihren entglittenen Abmessungen, der zu Offroad-orientierten Ergonomie. Druck am Lenker, Bezug zum Vorderrad? Dort schwierig.

Ausgeprägte Handlichkeit, bessere Stabilität

Deutlich schöner nun diese Ducati Multistrada V4 S, der das größere Rad, womöglich auch die etwas schmalere Bereifung mit höherem Querschnitt hinten genauso entschieden zu mehr Harmonie verhilft wie die grundverschiedene Motor-/Chassis-Konstruktion nebst gleichmäßigerem Druck. Die Handlichkeit ist nach wie vor ausgeprägt, die Stabilität deutlich besser, das Lenkverhalten neutraler. Resultat: ein organischeres, flüssigeres Fahren mit feinem, verbindlichem Anlehngefühl. Die Sache geht leichter, müheloser von der Hand. Vor allem beim Touring ein großer Gewinn. Und beim Sporteln fehlt nichts: Wie jede gute Ducati wird auch die Multistrada nur besser, je fester man es laufen lässt. Transparenz und Rückmeldung sind für ein 254-Kilo-Motorrad ordentlich belastbar, sicher auch der Verdienst des brillanten Scorpion Trail II. Ein Überfahren? Schier unmöglich.

Den erweiterten Wohlfühlbereich unterstreichen Spreizung und Arbeitsweise des semiaktiven Fahrwerks (S-Modell) wie auch die Fahrassistenz-Vollausstattung. Ansprechverhalten und Dämpfungsgüte der Marzocchi-Federelemente erfüllen berechtigt hohe Erwartungen. Wieder je nach Fahrmodus: von endurogemäß sänftig bis zur knalligen Härte. Die Einstellmöglichkeiten sind nun auf ein sinnvolles Maß reduziert: vier dem Modus angepasste Grund-Setups, jeweils an Gabel und Federbein in fünf Stufen Richtung soft oder straff justierbar. Neu ist die Auto-Levelling-Funktion, die die Federbasis automatisch auf den Beladungszustand anpasst. Komfortabel und für Einstell-Muffel bei Sozius/Gepäckfahrt ein Sicherheitsbonus. Übrigens beträgt die Zuladung in der getesteten Ducati Multistrada V4 S gute 216 Kilogramm.

Fahrassistenzsystem der Multistrada V4 S

Stichwort Sicherheit: Lückenlos müssen die Fahrhilfen bei einer Reiseenduro dieser Liga sein. Was Ducati schon mit den 1200ern lieferte, mehr noch mit der V4. Getrennte Traktions- und Wheeliekontrolle bieten wieder mannigfaltige Optionen, die Eingriffe erfolgen wieder feiner, nahezu unmerklich. Schräglagensensorik der aktuellsten Generation (Bosch 10.3), versteht sich. Was die Bremse anbelangt, kommt in der S-Version teuerste Ware zum Einsatz: 330er-Doppelscheibe, Brembo-Stylema-Radialzangen und radiale Bremspumpe. Nachdem in der Vergangenheit die Applikation des ABS auf der aggressiven Seite lag – amtliche Stoppies waren auch auf der mittleren der drei Stufen möglich –, haben die Entwickler dies vielleicht etwas zu sehr ins Gegenteil verschoben. In der schärfsten Stufe dürfte mehr gehen. Auch fiel ein für die Hardware ungewöhnlich weicher Druckpunkt auf. Die Modulierbarkeit ist hervorragend, die Verzögerungsleistung bleibt immer angemessen – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Vermutlich stecken auch zahme Beläge drin.

Was für eine Reiseenduro sonst von Belang ist, kann auch ein Top-Test nur anschneiden. So wurde vor allem der Windschutz der Ducati Multistrada V4 S spürbar verbessert, wovon eine breitere, nach wie vor leicht verstellbare Scheibe und transparente Abweiser künden. Griff- und Sitzheizung als Teil des Travel-Pakets wärmen nur ordentlich, Koffer und Soziuskomfort dagegen überzeugen. Das TFT, im Falle der S-Version 6,5 Zoll groß, liefert seine Infos nach bekannter Ducati-Logik nach etwas Eingewöhnung intuitiv, dazu taugt der neue Joystick. Die Darstellung erfolgt kontrastreich, aber teilweise klein. Dicker Pluspunkt: Ducati Connect, leider dem S-Modell vorbehalten, kann echte Navigation (Sygic) aus dem Smartphone spiegeln und so womöglich das Navi ersetzen. Schließlich der viel beachtete, aufpreispflichtige Radar-Tempomat, den es aktuell nirgends sonst gibt: Man wollte ihn beiläufig als überflüssiges Gimmick abtun. Doch er funktioniert ganz tadellos, stellt auf langweiligen Autobahn-Ziehstrecken eine handfeste Bereicherung dar. Auch der damit einhergehende Totwinkelassistent macht seine Sache einwandfrei. Richtig schicke Dreingabe.

6,8 Liter Verbrauch bei verhaltener Landstraßenfahrt

Der Haken am “fast” perfekten Motor? Verbrauch und die damit einhergehende Praxisreichweite: 6,8 Liter bei verhaltener Landstraßenfahrt, das geht nicht. Ducatis V4-Motoren sind keine Sparwunder, doch der nochmals größere Durst des Granturismo lässt darauf schließen, dass das smoothe Ansprechen mit reichlich Anfettung teuer erkauft ist. Der 130er-Konstantverbrauch, der mit 6,4 Litern akzeptabel ausfällt, untermauert diese These. Umgekehrt, bei verbrauchsintensiven Test- und Fotofahrten etwa, sank der Aktionsradius mitunter auf weniger als 250 Kilometer – zur Erinnerung: bei 22 Litern Vorrat. Da erübrigt sich jeder Kommentar. Und mit dieser einzigen, aber gewichtigen Hypothek geht die sonst brillante Multistrada V4 S in den Showdown mit der BMW R 1250 GS. Den Vergleich von Ducati Multistrada V4 S und BMW R 1250 GS lest ihr in MOTORRAD 6/2021. Freut euch drauf, das war ’ne heiße Kiste.

Ducati Multistrada V4 S konfigurieren, probefahren und kaufen

Wer nun selbst fahren möchte, für den haben wir hier ein paar weiterführende Links bereitgestellt.

    Ducati Multistrada V4 S versichern
    Motorrad-Versicherungsangebot bei der WGV

    Ducati Multistrada V4 S finanzieren
    Angebote für Motorradkredite von Finanzcheck

    Fazit

    Ein Paukenschlag von einem Motorrad. Die Ducati Multistrada V4 S mit dem 170-PS-V4 hätte der blanke Leistungs- und Ausstattungsexzess werden können. Stattdessen besticht ausgerechnet sie mit großer Harmonie und edler Fahrbarkeit. Stärker, breitbandiger, besser, natürlich teurer denn je. Desmo braucht sie nicht, und Radar ist ’ne tolle Sache. Allein, sie säuft.

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