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Das Bangen der Autokonzerne vor der US-Gewerkschaftswende

Jahrzehntelang profitierten Autokonzerne in den Südstaaten der USA von einem Standortvorteil: Gewerkschaften hatten nichts zu melden. Die „United Auto Workers“ wollen das ändern. Nach VW setzen sie nun Mercedes-Benz unter Druck – und damit das Geschäftsmodell einer ganzen Region.

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Ein Arbeiter in der Batteriefertigung am Mercedes-Benz Standort Bibb County in Alabama picture alliance/dpa/Mercedes-Benz AG/—

An der Piquette Avenue in Detroit, im US-Bundesstaat Michigan, ist nicht viel übrig geblieben außer einem kleinen Museum. Ein paar Dutzend Oldtimer stellt der Autobauer Ford hier in einer heruntergekommenen Industriehalle aus, Besucher laufen über knarzenden Holzdielen daran vorbei. Zu den Ausstellungsstücken zählt das erste Massenfahrzeug der Welt, das Model T, das in diesen Hallen einst produziert worden ist. Die Blütezeiten der 1910er- und 1920er-Jahre lassen sich hier nur noch erahnen. Seit Jahrzehnten siedeln sich Autohersteller fast nur noch in den Südstaaten der USA an. In der einst stolzen Motor City stehen viele Hallen leer.

Jetzt ist die Sorge groß, dass es den Südstaaten schon bald so ergeht wie Detroit im Norden. Sie verlieren gerade eines der wichtigsten Argumente, mit dem sie die großen Autobauer der Welt in ihre Region gelockt haben, darunter Volkswagen, BMW und Mercedes-Benz. Im Süden mussten die Konzerne seit jeher keine einflussreichen Gewerkschaften fürchten. Das hielt die Löhne niedrig und damit die Produktionskosten.

Doch jetzt gelang den „United Auto Workers“ (UAW), einer der größten Arbeitervertretungen des Landes, ein historischer Erfolg. Im VW-Werk in Chattanooga im US-Bundesstaat Tennessee stimmte die Belegschaft mit großer Mehrheit dafür, sich gewerkschaftlich zu organisieren – zum ersten Mal bei einem ausländischen Fahrzeughersteller. Geht es nach den UAW, soll der Vormarsch in den Süden damit erst beginnen. Die Bundesstaaten bangen nun um ihr Erfolgsmodell.

In US-Medien sprach UAW-Boss Shawn Fain schon davon, dass VW nur der erste Dominostein sei, der jetzt gefallen ist. Ausgerechnet die Belegschaft von Volkswagen hatte sich in der Vergangenheit als besonders standhaft gegen die Gewerkschaft erwiesen. Dabei ist der Konzern in Deutschland von der IG Metall dominiert und in allen anderen Werken auf der Welt gewerkschaftlich organisiert.

Doch in den vergangenen Jahren war die UAW gleich zweimal mit dem Versuch gescheitert, die Arbeiterschaft in dem Werk in Tennessee zu vertreten. Diesmal hatten Betriebsräte in Wolfsburg das Management unter Druck gesetzt, sich vor der Abstimmung neutral zu verhalten.

Nun steht wenige hundert Kilometer weiter südwestlich die nächste Abstimmung an. Im Bundesstaat Alabama, in der Fabrik von Mercedes-Benz, werden Tausende Arbeiter darüber entscheiden, ob sie von der UAW vertreten werden wollen. Die Aktivitäten der UAW und das Verhalten des Unternehmens im Werk in Tuscaloosa beobachte man sehr genau, sagte Mercedes-Betriebsratschef Ergun Lümali, der auch Vorsitzender der Weltarbeitnehmervertretung des Konzerns ist, WELT AM SONNTAG.

„Wir stehen vor einer historischen Entscheidung und unsere Haltung ist so klar wie eindeutig: Wir ermutigen die Kolleginnen und Kollegen in Tuscaloosa Geschichte zu schreiben, indem sie ihr Wahlrecht wahrnehmen und für die Bildung einer Gewerkschaft stimmen.“ Nach erfolgreicher Wahl für die UAW werde Tuscaloosa „vollwertiges Mitglied der Weltarbeitnehmervertretung“, sagte Lümali.

Am 13. Mai beginnt die mehrtägige Abstimmung. Die Chancen für die Gewerkschaft stehen gut. Tausende Autoarbeiter hätten in den vergangenen Monaten eine Beitrittserklärung unterzeichnet, heißt es bei der UAW. Nicht nur bei Volkswagen und Mercedes, sondern auch im Werk von Hyundai in Alabama oder von Toyota in Missouri verzeichnet die Arbeitnehmervertretung Zulauf.

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Infografik WELT

Für die Südstaaten ist das ein Einschnitt. Anders als etwa in Michigan, dem einstigen Zentrum der amerikanischen Autoindustrie, fehlte es den Gewerkschaften im Süden seit jeher an Einfluss. Ein Hauptgrund waren die sogenannten „Right to Work“-Gesetze („Gesetze zum Recht auf Arbeit“).

Was nach einer Jobgarantie klinge, meine viel mehr Regeln zur Machtbeschränkung von Gewerkschaften, sagen Kritiker. Die Gesetze ermöglichen es den Arbeitnehmern, sich von der Gewerkschaft vertreten zu lassen, ohne jedoch Mitgliedsbeiträge entrichten zu müssen. Die Folge: Nur wenige zahlen, die Kassen der Gewerkschaften bleiben leer – und damit ihr Einfluss klein.

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Das VW-Gelände in Chattanooga im Bundesstaat Tennessee Elijah Nouvelage/Getty Images

Robert McNab beschäftigt sich seit Jahren mit dem US-Arbeitsmarkt. Der Wirtschaftsprofessor an der Old Dominion University in Norfolk hat den Gewerkschaftseffekt berechnet: „In allen Bundesstaaten, die man dem Süden der Vereinigten Staaten zuordnen würde, lag der gewerkschaftliche Organisationsgrad unter dem nationalen Durchschnitt“, sagte McNab.

In South Carolina etwa sind es nur 2,3 Prozent statt der bundesweiten elf Prozent. Der fehlende Einfluss der Gewerkschaften macht sich bei den Gehältern bemerkbar. Während organisierte Arbeiter im Durchschnitt 1260 Dollar pro Woche verdienen, erhalten Beschäftigte ohne Mitgliedschaft fast 200 Dollar weniger. „Aus wirtschaftlicher Sicht waren der niedrigere gewerkschaftliche Organisationsgrad und die ‚Recht auf Arbeit‘-Gesetze ein Wettbewerbsvorteil für die Südstaaten“, sagte McNab.

Abwanderung nach Mexiko

Die plötzliche Unterstützung für die Gewerkschaften auch im Süden liegt an den Erfolgen der UAW im vergangenen Herbst. Über Wochen hinweg hatten die Autoarbeiter in mehreren Werken von Ford, General Motors und Stellantis gestreikt, den sogenannten „Big Three“. Die UAW hatte dabei Lohnzuwächse von bis zu 33 Prozent rausgeschlagen.

„Wir haben den großen Vertrag gesehen, den UAW-Arbeiter bei den Big Three gewonnen haben, und das hat alle zum Nachdenken gebracht“, sagte Zachary Costello, ein Ausbilder bei VW in Chattanooga. Mitarbeiter sähen, wie das bessere Gehalt und die Sozialleistungen ihr Leben verändern würden. „Wenn die Leute erst einmal erkennen, welchen Unterschied eine Gewerkschaft macht, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie aufzuhalten“, ist Costello sicher.

Bei den Politikern ist die Sorge jedoch groß, dass ihre Bundesstaaten durch den Vormarsch der UAW den Wettbewerbsvorteil verlieren könnten. Gleich sechs republikanische Gouverneure aus dem Süden haben deshalb einen offenen Brief geschrieben. „Die Realität ist doch, dass Unternehmen die Wahl haben, wo sie investieren und Arbeitsplätze sowie Chancen schaffen wollen“, warnen die Landeschefs, zu denen auch prominente Gouverneure wie der Texaner Greg Abbott gehören.

Eine gewerkschaftliche Organisierung gefährde zweifellos Arbeitsplätze. Sie sprächen aus, was niemand hören wolle, meinen die Gouverneure: „Wir haben es jedes Mal erlebt, wenn ein ausländisches Automobilwerk gewerkschaftlich organisiert wurde. Kein einziges dieser Werke ist noch in Betrieb.“

Tatsächlich sind viele Autokonzerne nach Mexiko abgewandert, wo die Lohnkosten noch niedriger sind. Weil das Land Mitglied der nordamerikanischen Freihandelszone ist, können die Unternehmen den US-Markt von dort aus problemlos beliefern.

Welche Konsequenzen die Gewerkschaftsgründung für das Geschäft von VW hat, will der Konzern nicht explizit beantworten. In einer Mitteilung heißt es aber, man setze sich gemeinsam mit der UAW für eine „starke und erfolgreiche Zukunft bei Volkswagen Chattanooga“ ein. Andere Hersteller sind der Gewerkschaft nicht mehr so wohlgesonnen: Ford werde „sorgfältig darüber nachdenken“, wo künftige Fahrzeuge gebaut würden, sagte Konzernchef Jim Farley im Februar in New York. Die Beziehung zur UAW habe sich durch die jüngsten Streiks stark verändert.

Experten wie Harley Shaiken glauben, dass die Autobauer in den Südstaaten auch in einem gewerkschaftlich organisierten Umfeld wettbewerbsfähig sein können. „Es ist unwahrscheinlich, dass einer der Autohersteller irgendwelche Betriebe schließen wird“, sagt der Arbeitsmarktökonom.

Schließlich hätten sie Milliardenbeträge in erfolgreiche Werke investiert. „Wir werden wahrscheinlich nicht weniger, sondern mehr Investitionen sehen“, meint Shaiken. Höhere Löhne könnten schließlich auch zu höherer Produktivität, besserer Qualität und mehr Innovation führen.

So sei es schon einmal passiert, erklärt der Ökonom und vergleicht die Situation ausgerechnet mit der Blütezeit in Detroit. Weil die Beschäftigten bei Ford nach der Einführung des Fließbands unzufrieden waren, verdoppelte Unternehmensgründer Henry Ford den Lohn kurzerhand auf fünf Dollar pro Tag.

Die Arbeiter seien motivierter gewesen, das neue System zu akzeptieren. Daraufhin sei die Produktivität dramatisch gestiegen, sagt Shaiken. Und zitiert einen Satz, an den er Hoffnungen für die Südstaaten knüpft: „Ford sagte in seiner Autobiografie, dass die Verdoppelung des Lohns die beste Kostensenkung war, die er je vorgenommen hatte.“

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