Kraftvoll: Der Polestar 2 kommt dank Allradantrieb und Drehmoment besser durch Matsch und Schnee als viele SUVs.
Fangen wir mit Namen an: Das Auto, das vor uns steht, heißt Polestar, so wie der Polarstern auf Englisch. Man muss sich mit Automarken sehr gut auskennen, damit einem dieser Name überhaupt etwas sagt. Der Polarstern weist nach Norden, in diesem Fall nach Schweden. Dort tauchte der Name vor ein paar Jahren auf den Rennstrecken auf, als Schriftzug auf den ganz schnellen Volvos: Was für BMW die M-Abteilung ist und für Mercedes der Haustuner AMG, war für Volvo Polestar.
Seit fünf Jahren wollen die Schweden aber mit Polestar etwas anderes, als die Bürger mit lautem Auspuffröhren und tiefergelegten Karossen zu verschrecken: Aus dem Haustuner Polestar wurde eine eigene Marke für Elektroautos. Ist das, was hier vor uns steht, also einfach ein Elektro-Volvo? So einfach ist es nicht.
Früher gab es in Schweden zwei Automarken, Volvo und Saab. Volvo baute sehr solide Autos, die meistens aussahen wie fahrende Schrankwände oder aufeinandergestapelte Kartons; eine Ausnahme waren die italienisch aussehenden 1800er Coupés. Saab, eigentlich ein Flugzeughersteller, fing mit Autos an, die aussahen wie Flugzeugkabinen ohne Tragflächen, und stellte mit dem Modell 900 Turbo schließlich das Traumauto aller Architekten und Freiberufler her, denen ein BMW zu konventionell und ein Volvo zu eckig oder zu langsam war.
Volvo versuchte hin und wieder, sein Image zu ändern. Als das Modell 850 herauskam, zeigte Volvo in der Werbekampagne einen Backstein, einen Panzer und einen Tresor: „Wenn Sie bei Volvo an das hier denken, haben wir eine Überraschung für Sie.“ Die Überraschung sah allerdings auch nur aus wie eine etwas windschnittigere Version der Quersumme eines Backsteins, eines Panzer und eines Tresors. Beide überlebten nicht als unabhängige Hersteller. Saab kam zu General Motors und wurde ruiniert, Volvo wurde 1999 von Ford übernommen und landete später bei der chinesischen Geely-Gruppe. Deswegen wird der neue Polestar 2 in China gebaut.
Der deutsche Designer Thomas Ingenlath hat eine scharf konturierte Limousine entworfen.
Seitdem fahren Volvo-Fahrer mit zwei kriegerischen Hämmern durch die Gegend, was gar nicht so zum defensiv-ökologischen Image passen will: Mit Krokodilstränen erklärte der Volvo-Chef vor einiger Zeit, man regle in Zukunft alle Autos bei 180 km/h ab, weil es unverantwortlich sei, noch schneller zu fahren. Dass man damit Entwicklungs- und Herstellungskosten für aufwendige Hochgeschwindigkeitswagen sparen wollte und dass Elektroautos bei mehr als 180 km/h Dauertempo eher schnell der Saft ausgeht, wurde nicht erwähnt; der Sparzwang wurde als Ausdruck einer neuen Moral verkauft.
Einsteigen, hinsetzen, losfahren: kein Zündschlüssel notwendig, kein Startknopf vorhanden
Fast die Hälfte aller neu zugelassenen Autos in Deutschland hatte letztes Jahr einen alternativen Antrieb. Der Polestar 2 drängt auf diesen Markt, preislich liegt er etwa bei einem Tesla Model 3. Der einfachste Polestar mit 231 PS – in 7,4 Sekunden auf 100 km/h, 160 km/h Spitze – kostet rund 47.300 Euro, für gut 55.000 Euro gibt es 408 PS, Allradantrieb, optionale Rallyestreifen, eine brachiale Beschleunigung von 4,7 Sekunden – und aller Volvo-Moraltheorie zum Trotz über 200 km/h Höchstgeschwindigkeit.
Abheben von Teslas Design
Vom Tesla will sich der in China gebaute, von einem Deutschen entworfene Schwede vor allem durchs Design abheben: Nicht jeder mag die Form des Tesla Model 3, dessen Front ein wenig an den Schnabel einer bösen Ente erinnert. Ingenlath hatte zunächst für Polestar ein scharf konturiertes Coupé entworfen, das die Grundproportionen eines der schönsten Volvos, die des P1800, in die Gegenwart übersetzt hatte.
Spurenelemente wie Grill und das schmale, gefaltete Band der Rückleuchten findet man auch in der Mittelklasse-Limousine Polestar 2 wieder; ansonsten hat der Polestar nicht die tieferliegende, breite Eleganz von Ingenlaths bestem Volvo-Entwurf, dem aktuellen S60, er wirkt hochbeiniger und schmaler und mischt dafür die klassische Kombi-Limousine mit großer Heckklappe mit einer leichten Dosis SUV-Coupé.
Einsteigen: Innen ist alles skandinavisch aufgeräumt und in dezenten Grautönen gehalten. Bei den Details durften sich die Designer austoben; das Glas der Rückspiegel schwebt bündig wie ein senkrechter Infinitypool neben dem Seitenfenster, alles ist, wie das in Designerdeutsch heißt, „sauber gezeichnet“, typisch Ingenlath: keine Plastikwülste, alles klare Flächen. Der Sound des Blinkers macht nicht mehr klack-klack, sondern klingt wie die sonore Beatmaschine einer Elektropop-Band – nach Zukunft.
Dann aber, Irritation Nummer eins: Es gibt keinen Zündschlüssel mehr, nicht mal einen so schönen Startknopf. Man startet einfach, indem man sich hineinsetzt und aufs Gas tritt. Beim Abstellen des Autos, das, weil elektrisch, nicht durch Motorgeräusche mitteilt, ob es noch läuft, die bange Frage: Wie schaltet man das Ding ab? Einfach auf „Parken“ und abschließen? Summt da nicht noch was? Irritation Nummer zwei: Die Anzeige im Tacho gibt an, man habe noch 400 Kilometer Reichweite, bis die Batterie leer ist.
Bei den Sitzen hört die Design-Obsession der Gestalter leider auf. Man sitzt auf einem strapazierfähigen, an Taucheranzüge erinnernden Lederersatzprodukt, das sich so anfühlt, wie Fleischersatzprodukte schmecken. Wo ist das warme dunkelrote und tiefblaue Velours hin, mit dem Volvo und Saab in den Siebziger- und Achtzigerjahren die Fahrer ihrer Autos vor der realen und der emotionalen Kälte der Winterwelt draußen schützten?)
Alles ist leichtgängig
Anfahren: Lautlos saust der Polestar mit dem für Elektroautos üblichen Punch los. Alles ist leichtgängig, man würde dem Auto ohne Weiteres zutrauen, dass es auch ganz allein fahren kann, das darf es aber noch nicht. Das gesamte Dach ist verglast, die Fahrgäste sehen Baumkronen und Wolken vorbeifliegen. Über dem Kopf des Fahrers schwebt mittig im Glasdach als Leuchtintarsie das Markenzeichen von Polestar, ein stilisierter, aus zwei Winkeln zusammengesetzter Stern, der an das NATO-Symbol und an ein auseinandergefallenes Citroën-Zeichen erinnert.
Wer das Gaspedal ganz durchtritt, muss einen guten Magen haben – und viel Platz vor sich. Das alte Tesla-Motto „Burn rubber, not gas“ wurde hier sehr ernst genommen. Man saust nicht los, man wird gebeamt. Solche Beschleunigungen gab es bis vor Kurzem nur bei Ferrari zum vierfachen Preis, und man wird sehen, wie sich solche Elektro-Geschosse in den Händen normaler Mittelklasse-Lenker und nur beschränkt fahrsicherer, weil selten autofahrender Carsharing-Kunden benehmen. Hier wäre eine Drosselung der Maximalleistung vielleicht viel nötiger als bei der Höchstgeschwindigkeit. Immerhin hat der Wagen sehr gute Bremsen und ist auch im Grenzbereich gut zu kontrollieren.
Viele aktuelle Autos sehen nur so aus, als könnten sie auch im Gelände fahren; tatsächlich – das ist ja das wirklich Ärgerliche am SUV – verbinden sie die Nachteile eines Jeeps in der Stadt (unübersichtlich, platzraubend) mit denen eines normalen Autos im Gelände (kein Allradantrieb, zu wenig Bodenfreiheit). Beim Polestar ist es anders herum: Er benimmt sich auf der Straße bei Bedarf wie ein Rennwagen.
Dank Allradantrieb und enormem Drehmoment kommt er aber auch durch Schnee und Schlamm besser durch als viele SUV: Wo bei anderen die elektronische Fahrstabilitätskontrolle eingreift und den Wagen genau dort, wo Vollgas nötig wäre, ausbremst und stecken bleiben lässt, ballert der Polestar mit abgeschaltetem ESP munter weiter. Wer öfter über schlammige Feldwege fahren oder im Winter verschneite Hänge erklimmen muss, hat hier eine interessante Alternative zu den üblichen Vehikeln.
Das Display teilt einem verschiedene beruhigende Dinge mit, zum Beispiel, dass die Luftqualität im Auto gut ist. Wie in allen neueren Elektroautos fehlen die Knöpfe, über die man Radio, Lüftung, Heizung oder Klimaanlage bedient: findet jetzt alles über das zentrale Display elektronisch statt. Kein Problem, solange die Suche in den Tiefen des Display-Menüs nicht vom Fahren ablenkt – und solange nicht, wie im letzten Hitzesommer oft passiert, die zentralen Displays plötzlich ausfallen und Radio und Klimaanlage nicht mehr gesteuert werden können.
Bordsteine als Hindernisse
Bordsteine hält das Auto bisweilen für Hindernisse, dann bremst der Wagen so ruckartig, als sei man jemandem draufgefahren, eine fürs Genick durchaus schmerzhafte Erfahrung: „automatische Intervention Bremsautomatik hinten“ erscheint als Rechtfertigung im Display. Man verflucht die Algorithmen, die mal wieder an der Komplexität des Lebens gescheitert sind, es gut mit dem Fahrer meinen und ihn vorsichtshalber aber orthopädiereif bremsen: Der Weg zum Arzt ist mit guten Absichten gepflastert.
Ist dieses Auto die Zukunft? Es macht – wenn es nicht gerade dem Fahrer die Entscheidungen abnimmt und unsinnige Bremsmanöver anordnet – vieles besser als andere Elektroautos. Es ist andererseits ein Auto, wie Autos immer waren, schwer, komfortabel, schnell, eher für Landstraßen als für die Stadt gedacht, zumal die schweren Elektroautos mit dem Abrieb ihrer Reifen trotz E-Antrieb ordentlich Feinstaub produzieren.
Der Polarstern, weiß das Lexikon, ist das hellste Gestirn im Sternbild des Kleinen Bären, das man auch den „Kleinen Wagen“ nennt. Ein kleiner Wagen ist der Polestar aber nicht. Für die Stadt sollte man lieber nach etwas anderem suchen. Einem kleinen Bären zum Beispiel, genannt Panda, wie ihn Fiat 1980 auf den Markt brachte. Er wog nur 700 Kilo, hatte ein Faltdach und Sitze, die man zu einem Doppelbett umbauen konnte. Es gab ihn sogar mit Allradantrieb, und er kam überall durch. Man wollte keinen Unfall damit haben, aber dafür bremste er einen auch nicht aus, wenn es dafür keinen Grund gab. Bald soll er wiederkommen, als Elektroauto. Aber das ist eine andere Geschichte.