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Wozu brauchte Paul Celan den Ratgeber «Teste selbst. Für Menschen, die ein Auto kaufen»? Jedenfalls nicht, um ein Auto zu kaufen

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Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931–1989) in einer Aufnahme von 1971. Brandstaetter Images / Hulton Archive / Getty

Mit fliegendem Bleistift schreibt Rilke in den Entwurfsblättern zu seinen «Duineser Elegien» den Satz: «Im Hingang es hat keine andere Zuflucht». Dass der Dichter für die Zeile mit der seltsamen Syntax eine ganze Seite braucht, wird seine Gründe haben. Auch dass er den Satz am Ende verwirft.

Nach dem Hingang Rainer Maria Rilkes im Jahr 1926 haben die Manuskripte in seiner Familie Zuflucht gefunden. Fast hundert Jahre lang hat man sich in privater Hingabe um einen Nachlass gekümmert, über den künftig das Literaturarchiv Marbach verfügen wird. Mit dabei: die Entwürfe zu den berühmten «Duineser Elegien», die das Archiv kürzlich stolz in Berlin präsentierte. Der Kaufpreis für 10 000 Manuskriptseiten, 86 Notizbücher, fast 9000 Briefe und eine Bibliothek Rilkes wurde nicht bekanntgegeben.

Es scheint gut zu stehen um die Bewirtschaftung von literarischem Kulturgut. Fast zeitgleich hat das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek bekanntgegeben, dass man einen testamentarischen Wunsch Thomas Bernhards grosszügig missachten wird: «Ich verwahre mich gegen jede Annäherung dieses österreichischen Staates meine Person und mein Werk betreffend in alle Zukunft», hat der Autor vor seinem Tod geschrieben. Von einer Zukunft noch nichts ahnend, in der Österreich ernst macht und 2,1 Millionen Euro lockermachen wird, um sich seinen Nachlass zu sichern.

Der grosse Unbekannte

Auch jenseits des Atlantiks gab es ein Rumoren. Thomas Pynchon, der berühmteste Unsichtbare der amerikanischen Literatur, hat der kalifornischen Huntington Library seinen Vorlass verkauft. 48 Kisten mit Material und Vorstufen zu seinem Werk. Pynchon wäre nicht Pynchon, wäre aus diesem Papierberg nicht alles Persönliche gewissenhaft entfernt worden. Keine privaten Briefe und keine Fotos des Autors, von dem man bis anhin nur unscharfe Jugendbilder und zwei denkwürdige Auftritte in der «Muppet Show» kennt. Bei den Muppets mit Papiertüte über dem Kopf. Für Pynchon, der sich im Roman «Gravity’s Rainbow» übrigens eingehend mit Rilke beschäftigt, gibt es nur das Werk.

Als Autor möchte Pynchon für die Öffentlichkeit schon vor seinem Tod gestorben sein. Er ist damit das genaue Gegenteil von Thomas Bernhards Öffentlichkeitslust, die von privaten Mythen umrankt ist. Bei manchen seiner Lebensereignisse wird das auch nach dem Ankauf des Nachlasses, der 150 unveröffentlichte Texte beinhalten soll, so bleiben. Der Briefwechsel Bernhards mit der Wiener Beamtenwitwe Hedwig Stavianicek, dem «Lebensmenschen», dem er «alles verdankt», ist in den nächsten zehn Jahren nur mit Einwilligung von Bernhards Erben einsehbar. Die Annahme, dass sich in der aus rund 650 Briefen bestehenden Korrespondenz Thomas Bernhard als Mensch entpuppt, ist wohl berechtigt.

Das Archiv ist die Rache am Autor. Mit der Bearbeitung der dort gelagerten Materialien materialisiert sich ein zweites Ich, das dem Original mehr oder weniger ähnlich sieht. «Mist!» und «Aufgeblasenes Nix!», hat Thomas Bernhard auf die Manuskripttitelseite seines frühen Romanversuchs «Der Wald auf der Strasse» geschrieben und sich auch gleich noch die Frage gestellt: «Wie kann sowas passieren?»

Etwas ganz anderes ist Ingeborg Bachmann und Max Frisch miteinander passiert. Eine Liebesgeschichte, die mit der kürzlichen Veröffentlichung der Briefe von Bachmann und Frisch aus dem Nachlass anders gelesen werden muss als bis anhin. Es ist ein Sieg des Archivs gegen falsche Mutmassungen des Literaturbetriebs. Dass beide gleichermassen Opfer dieser Beziehung waren, weiss man jetzt. Es wäre nichts gewonnen, würde man um die Privatsphäre der Schriftsteller einen Wall der Geheimniskrämerei errichten.

Ein Meister des Networking

Apropos Geheimnis. Dass Rainer Maria Rilke, wenn seine Archivalien erst einmal aufgearbeitet sind, deutlich geheimnisloser vor uns steht, muss nicht einmal ein Schaden sein. Schon jetzt dringt aus Marbach die Kunde, der Dichter sei keineswegs so vergeistigt gewesen, wie man meint. Eher war Rilke ein geschickter Meister des Networking, wie seine Korrespondenz zeigt. «Hinstürmte der Held durch Aufenthalte der Liebe», wie es in den «Elegien» heisst, um jetzt in Marbach seinen wohlverdienten Platz zu finden. Eine späte Sensation, wie es heisst. Bis zum 150. Geburtstag Rilkes im Jahr 2025 ist es nicht mehr lange hin.

Um über einen Kilometer wachsen die Marbacher Bestände pro Jahr. In den Regalen stehen Spekulationsobjekte des deutschen Geisteslebens. Manuskripte, Zettel und persönlicher Nippes von Autoren, die nach ihrem Tod kanonisiert wurden. Oder von Autoren, die lebend und weiterschreibend immer noch an ihrer Kanonisierung arbeiten.

Gäbe es die Archive mit ihren Zeitkapseln nicht, wer wüsste heute noch, dass Paul Celan für seine Gedichte «Die herzschriftgekrümelte» und «Unverwahrt» den in seiner Bibliothek vorhandenen Ratgeber «Teste selbst. Für Menschen, die ein Auto kaufen» ausgeschlachtet hat? Oder dass Arno Schmidt einen Reklamezettel des Bargfelder Lebensmittelladens für «Kraft Extra Scheibletten» schon für die Nachwelt der Archive beschriftete: «Handunterlage beim Rechnen / April ’76 / Sch».

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