(Bloomberg) — An einem Montagnachmittag Mitte August wechselten die Arbeiter im Elektrofahrzeugwerk von Volkswagen in Zwickau mit versteinerter Miene zwischen Fahrzeugrahmen und Plattformen hin und her. Das Werk hatte die Nachtschichten abgeschafft und Hunderte von Leiharbeitern entlassen.
Eine gewisse Vorahnung lag bereits in der Luft.
„Die Stimmung ist angespannt, muss ich ehrlich sagen“, erinnert sich Ronnie Zehe, Montageleiter in einem der neuesten und effizientesten Werke von VW.
Drei Wochen später ist die Zukunft dieser Männer und Frauen in Gefahr, nachdem der Käfer- und Golf-Hersteller eine Warnung herausgegeben hat, dass er zum ersten Mal in seiner 87-jährigen Geschichte Werke schließen könnte. Kurz vor der Unternehmensmeldung war in Sachsen — wo Zwickau liegt — und im benachbarten Thüringen ein politischer Weckruf erfolgt: Die Parteien an den politischen Rändern konnten bei den dortigen Landtagswahlen die Hälfte der Mandate oder mehr erringen.
Volkswagen AG Defends Plan to Shut German Factories With Plunging Sales
Deutschland steht vor dem bisher symbolträchtigsten Moment in seiner Geschichte des industriellen Niedergangs, denn sein größter Hersteller ist bereit, den Rubikon der Werksschließungen zu überschreiten. Die Ankündigung von VW ist mehr als eine verspätete Anerkennung der wirtschaftlichen Realität. Sie ist ein schwerer Schlag für das Selbstverständnis des Landes als Automobilstandort und einer Wirtschaft, die zu Beginn dieses Jahrhunderts der größte Exporteur der Welt war.
Die Folgen sind sowohl kultureller als auch wirtschaftlicher Natur in einem Land, in dem nach dem Fall der Mauer nur mühsam zusammenwuchs, was zusammengehörte. Jenseits aller wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die das ganze Land betreffen, haben sich mit der Alternative für Deutschland, der Partei Die Linke und zuletzt dem Bündnis Sahra Wagenknecht Rechts- und Linkspopulisten das Ost-West-Gefälle zunutze gemacht. Das politische Establishment war machtlos, dem Einhalt zu gebieten.
Volkswagen-Standorte in Deutschland |
Kurzfristig sind ihre Wahlerfolge ein weiterer Schlag für die strauchelnde Ampelkoalition von Bundeskanzler Olaf Scholz. Längerfristig, mit Blick auf die Bundestagswahl 2025, stellt sich die Frage, wie die Unzufriedenheit der Wähler an der Wurzel gepackt werden kann. Vieles hängt davon ab, ob Deutschland eine Art neues Wirtschaftswunder gelingt: der rasche Wandel vom exportorientierten Autoland zu einer Wirtschaftsmacht, die auf saubere Energien setzt und bei Chips und Batterien ganz vorne mitspielt.
Die Chronik des Niedergangs von VW — eine mahnende Unternehmensgeschichte darüber, dass man der Zeit hinterherhinkt — spiegelt die Schwächen des deutschen Erfolgsmodells wider und lässt Zweifel daran aufkommen, dass Europas Wirtschaftsmotor weiterhin die Führung auf dem Kontinent übernehmen kann.
„Die Probleme von Volkswagen sind zum Teil selbstverschuldet durch schlechte Geschäftsentscheidungen, aber VW ist auch ein gutes Beispiel für die enormen Schwierigkeiten, mit denen der Wirtschaftsstandort Deutschland zu kämpfen hat“, sagt Carsten Brzeski, Leiter Makro bei ING. „Deutschland verliert seit Jahren an Wettbewerbsfähigkeit, und das trifft nun auch die ehemaligen Kronjuwelen der deutschen Wirtschaft.“
In Zwickau, einer mittelgroßen Stadt im Südosten, wo VW im vergangenen Jahr 247.000 vollelektrische Autos und 12.000 Karosserien für Lamborghini- und Bentley-Modelle herstellte, waren die Kostensenkungsmaßnahmen bereits in vollem Gange, bevor die Aussicht auf Werksschließungen im großen Stil aufkam.
Das Werk ist voll und ganz von der schleppenden Akzeptanz von Elektroautos in Europa betroffen, da die Modelle weiterhin zu teuer sind und die Förderung ausläuft. VW hat eine holprige Übergangszeit hinter sich, in der man zunächst an Dieselmotoren festhielt, um dann mit einer umfassenden Elektro-Offensive über das Ziel hinauszuschießen.
Das Wolfsburger Unternehmen war eines von hunderten, die nach der Wiedervereinigung die Chance nutzten, die Ostwerke zu übernehmen, darunter auch das in Zwickau, der Heimat des Trabant. „Jede zweite Familie ist irgendwie mit diesem Volkswagenwerk verbunden, und sei es der Metzger“, sagt Thomas Knabel, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Zwickau.
Die Schließung einzelner Fabriken ist für solche Gemeinschaften verheerend — und hat für Scholz einen politischen Preis. Laut Bloomberg Economics erwirtschaftet die Automobilindustrie rund 4% der gesamten Wertschöpfung in der deutschen Wirtschaft, weitere 4%, wenn man die damit verbundenen Bereiche wie die Metall- oder Gummiverarbeitung berücksichtigt.
Martin Ademmer, Ökonom bei BE, drückt es so aus: „Die Bedeutung der Autoindustrie für die deutsche Wirtschaft hat in den letzten Jahren abgenommen, aber sie ist immer noch ein sehr wichtiger Sektor.“
Die Geschichte von VW ist die Geschichte des Nachkriegsdeutschlands, eines Aufstieg gegen alle Widrigkeiten, verbunden mit dem Nachkriegswunder, das ein von Zerstörung gezeichnetes Land zur größten Industriemacht in Europa machte.
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An der Wende zum 21. Jahrhundert half VW die Fähigkeit, die Nachfrage einer wachsenden chinesischen Mittelschicht zu nutzen, um dem Schicksal seiner Rivalen in Detroit zu trotzen. Doch dann wurde die Abhängigkeit von den asiatischen Verbrauchern zu einem Problem.
Unter den aufeinanderfolgenden Regierungskoalitionen in Berlin wurde der Höhepunkt der Industrieproduktion im Jahr 2017 erreicht und durch den Aufstieg der fortgeschrittenen Produktion in China sowie aufeinanderfolgende Krisen — von der Pandemie bis zum Wegfall billiger russischer Gasimporte nach dem Beginn des Ukraine-Krieges — erodiert.
Die Antwort der Regierung Scholz bestand vor allem in einem überstürzten Versuch, großzügige Subventionen an Unternehmen zu verteilten, die sich dort ansiedelten, um die Wähler im unruhigen Osten zu besänftigen.
Dieser Ansatz allein werde die abnehmende Wettbewerbsfähigkeit des Landes auf lange Sicht nicht beheben, sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Spahn, ein Mitglied des Wirtschaftsausschusses. „VW ist nur die Spitze eines großen Eisbergs“, warnte er diese Woche.
Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, sieht keinen Grund, Deutschland als führenden Industriestandort abzuschreiben.
„Deutsche Unternehmen können weiterhin erfolgreich sein, wenn sie mit den neuesten Technologien und qualitativ hochwertigen Produkten überzeugen und gleichzeitig die Kosten unter Kontrolle halten“, sagte sie. „Deutschland hat noch immer viele Weltmarktführer, insbesondere unter den sogenannten Hidden Champions, die Nischenmärkte dominieren.“
In Zwickau hat die Ankündigung von VW zumindest etwas Klarheit gebracht, auch wenn die Arbeitnehmer Mühe haben, die düstere Stimmung hinter sich zu lassen. Das Werk hat den Dienstplan für jedes einzelne Team komplett neu aufgestellt, was für die Beschäftigten mit Familien, Pflegeaufgaben und gesundheitlichen Problemen einen Belastungsfaktor darstellt.
„Wir haben hart daran gearbeitet, hier einen sehr guten Lebensstandard zu erreichen“, sagte Zwickaus Bürgermeisterin Constance Arndt. „Ich sehe mehr Licht als Schatten, aber die Menschen merken jetzt, dass es schnell zu Ende gehen kann.“
Überschrift des Artikels im Original:VW’s Woes Force Germany to Confront Its Waning Industrial Power
–Mit Hilfe von Elisabeth Behrmann, Kamil Kowalcze, Alex Newman und Christoph Rauwald.
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