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Nach Diesel-Skandal "Verdächtig": Forscher vermuten neue illegale Abschalteinrichtungen

Acht Jahre nach dem Auffliegen des Diesel-Skandals 2015 läuft noch immer die juristische Aufarbeitung. Vor Dutzenden Gerichten in Deutschland sind Klagen anhängig. Zu den bereits laufenden könnten nach einem neuen Bericht zu Abgaswerten weitere hinzukommen: zufolge weisen 77 Prozent der Dieselmodelle mit den Abgasnormen Euro 5, 6b und 6c “verdächtig” hohe Stickoxidemissionen auf.

Die Ergebnisse der Forscherinnen und Forscher fußen auf der Auswertung breit angelegter Testdaten von Dieselfahrzeugen in Europa, die sowohl aus dem Labor als auch aus der Praxis stammen. Mehr als 200 Fahrzeugmodelle wiesen hohe Stickoxid-Emissionen oberhalb des “verdächtigen” Schwellenwerts auf. Bei 150 Modellen zeigten sich sogar “extreme” Abweichungen von den gesetzlich zugelassenen Werten. Die überhöhten Emissionen deuteten auf die “wahrscheinliche Verwendung” unerlaubter Abschalteinrichtungen hin, die nach den jüngsten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als verboten eingestuft werden können.

Für die Autohersteller könnte die neue Untersuchung zum Problem werden. Erst diese Woche gab der EuGH einem Kläger aus Deutschland recht und senkte mit seinem Urteil die Hürden für Schadenersatzklagen von Dieselkäufern. In dem Fall ging es um einen Mercedes. Laut den Richtern könnten Autobauer jedoch auch dann haften, wenn sie fahrlässig, also ohne Betrugsabsicht gehandelt hätten.

Autos vieler großer Hersteller betroffen 

Der neue ICCT-Bericht ist auch deshalb brisant, weil der Forschungsverband den Diesel-Abgasskandal 2015 ins Rollen gebracht hatte. Damals stellten die Forschenden bei einem VW Passat und VW Jetta in der Fahrpraxis deutlich höhere Stickoxidwerte fest als erlaubt. Zahlreiche deutsche Hersteller wie Daimler, Porsche und Audi waren betroffen. Allein bei VW belaufen sich die Strafen auf 30 Mrd. Euro.

Der aktuelle ICCT-Bericht bezieht sich auf Diesel-Modelle mit Euro-5- und Euro-6-Zulassung, von denen zwischen 2009 und 2019 in Europa rund 53 Millionen Fahrzeuge verkauft wurden. In der Auswertung finden sich nach Definition des ICCT überhöhte Werte unter anderem bei Modellen der Automarken VW, Audi, Mercedes, Opel, Nissan, Ford und Volvo.

Dafür untersuchten die Forschenden Emissionswerte, die bei Tests von staatlichen und unabhängigen Organisationen ab 2016 festgestellt wurden. “Die Ergebnisse unabhängiger Tests und Remote Sensing Kampagnen zeigen, dass bis zu 100 Prozent der Durchschnittswerte sowohl von Fahrzeugmodellen als auch von Motorenfamilien den Schwellenwert für verdächtige Emissionen überschreiten”, schreibt das Forscherteam.

Bei mindestens 40 Prozent der offiziellen Tests wurden sogar “extreme” Stickoxid-Emissionen gefunden, was darauf hindeute, dass mit ziemlicher Sicherheit eine verbotene Abschalteinrichtung vorhanden sei. Der Schwellenwert “extrem” bezeichnet demnach ein Emissionsniveau, das so weit über den gesetzlichen Grenzwerten liegt, dass andere Erklärungen als das Vorhandensein einer Abschalteinrichtung höchst unwahrscheinlich sind.

Zwar seien auch andere Erklärungen denkbar, etwa unentdeckte Fehlfunktionen einzelner Fahrzeuge oder nicht funktionierende Messgeräte. So etwas komme aber äußerst selten vor. “Um den verbleibenden geringen Grad an Unsicherheit zu berücksichtigen, kommen wir daher zu dem Schluss, dass Tests und Fahrzeugmodelle, die den extremen Schwellenwert überschreiten, darauf hindeuten, dass die Verwendung einer Abschalteinrichtung fast, aber nicht vollkommen sicher ist”, bilanzieren die Forschenden.

Autobauer wiegeln ab 

Auf Capital-Nachfrage widersprechen die Autohersteller den Darstellungen der Studie. Bei Stellantis, dem Mutterkonzern von Opel und Peugeot, heißt es, man kenne die Einzelheiten der Studie nicht und könne sie daher nicht kommentieren. “Wir sind aber grundsätzlich davon überzeugt, dass alle unsere Fahrzeuge stets den gesetzlichen Anforderungen entsprochen haben”, so ein Unternehmenssprecher.

Ähnlich antworten auch Volkswagen und die Konzern-Tochter Audi: Keines der genannten Fahrzeuge des Volkswagen Konzerns enthalte “nach aktuellem Stand eine unzulässige Abschalteinrichtung”, heißt es in einem gemeinsamen Statement. Der Konzern verweist zudem darauf, dass die Grenzwert-Aussagen der ICCT “regulatorisch und juristisch falsch” seien. VW begründet das damit, dass es die RDE Messungen, auf die sich die ICCT-Studie beruft, erst seit der Euro-Norm 6d-temp gebe. “Insofern gibt es für Fahrzeuge früherer Emissionsnormen wie Euro 5 oder Euro 6a-c auch keinen RDE Grenzwert, den man überschreiten könnte.”

Auch Ford sieht sich zu Unrecht am Pranger: “Unsere Fahrzeuge und Motoren – einschließlich unserer fortschrittlichen Diesel-Technologie – erfüllen alle geltenden Emissionsvorschriften”, teilt die Firma mit. “Wir haben keine sogenannten 'verbotenen Abschalteinrichtungen' in unseren Fahrzeugen.” Nissan verweist darauf, sich an “die geltenden Emissionsvorschriften in allen Märkten” zu halten. Man unterstütze die in den vergangenen Jahren neu eingeführten Emissionsnormen und Fahrzeugprüfsysteme “voll und ganz”, teilt eine Unternehmenssprecherin mit.

Insgesamt 66 Modelle verwenden die von den Autobauern beschriebenen Kalibrierungsstrategien, die nach den jüngsten Urteilen des EuGH als verbotene Abschalteinrichtungen zu betrachten sind. Bei fast 50 Fahrzeugmodellen werde das Abgasreinigungssystem bei niedrigen Umgebungstemperaturen verändert oder deaktiviert, “eine Strategie, die vom EuGH ausdrücklich als verbotene Abschalteinrichtung eingestuft wurde”.

Die Forscherinnen und Foscher mahnen deshalb weitreichendere “Korrekturmaßnahmen” an. Durch die neuen Diesel-Urteile hätten die “Marktüberwachungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten und Großbritanniens nun eine klare Grundlage, um gegen überhöhte NOX-Emissionen durch verbotene Abschalteinrichtungen vorzugehen und systematische Änderungen in der Prüf- und Durchsetzungspraxis vorzunehmen”.

Dieser Artikel erschien zuerst bei unseren Kollegen von “Capital”.

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