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Mit „Blut und Schweiß“: VW plant den Befreiungsschlag in Amerika

mit „blut und schweiß“: vw plant den befreiungsschlag in amerika

Ein VW-Mitarbeiter in einem Werk in Tennessee.

Als gebürtiger Argentinier ist Pablo Di Si ein eingefleischter Fußballfan. In jungen Jahren kickte er für Atlético Huracán, einen lokalen Verein in Buenos Aires. Später erkämpfte er sich ein Fußball-Stipendium in den Vereinigten Staaten, wo er seit vergangenem September als Topmanager an der Spitze der Volkswagen Group of America steht.

Wenn er über diese Aufgabe spricht, zieht er gerne Vergleiche zur Fußballwelt. Auf die Frage, ob er derjenige sein kann, der den Autohersteller in den USA endlich aus der Nische herausholt, sagt er im Gespräch mit der F.A.Z.: „Ich will alles geben. Ich will leer aus einem Spiel kommen und jedes bisschen Blut und Schweiß aus mir und dem Team herausholen.“ Di Si sieht viele Gründe für Optimismus, das Amerikageschäft von VW mit dieser Einstellung voranbringen zu können. Oder um es in Fußballersprache zu sagen: nicht alle, aber doch viele Spiele zu gewinnen. Der Konzern sei auf dem Weg dazu, das beste Produktportfolio in seiner Geschichte zu haben.

Maximaler Einsatz ist auf seinem Posten dringend nötig. Denn im Gegensatz zu anderen Weltregionen ist der europäische Autokonzern in den USA alles andere als ein Schwergewicht. „Käfer“ und „Bulli“ waren in den Fünfziger- und Sechzigerjahren Ikonen, doch dann machten die Wolfsburger viele Strategiefehler. Sie setzten in Amerika auf kleine Limousinen, als große SUV beliebter wurden, ignorierten die Vorlieben der Kunden – und beschädigten mit dem Dieselskandal ihren Ruf. Di Si, 53 Jahre alt, will einen Befreiungsschlag schaffen, der seinen Vorgängern nicht geglückt ist, mit Methoden aus dem Sport. „Wir müssen in der Offensive sein“, sagt er. „Wir haben ehrgeizige und aggressive Ziele.“

Allein vom Modell ID.4, einem vollelektrischen SUV, will das Unternehmen in diesem Jahr 75.000 bis 85.000 Stück an US-Kunden liefern, kündigt Di Si an. Gelingt dies, wäre das bis zu viermal mehr als 2022, als das Fahrzeug erstmals im amerikanischen VW-Werk in Chattanooga vom Band lief. Mit Blick auf den gesamten Marktanteil, der im vergangenen Jahr gesunken ist, nimmt sich Di Si eine recht dramatische Kehrtwende vor. Er will ihn um mindestens einen Punkt auf 3,5 Prozent ausbauen. Das mag überschaubar klingen, könnte aber je nach Entwicklung des Gesamtmarkts heißen, dass VW etwa 150.000 Autos mehr verkaufen muss als im vergangenen Jahr.

Rückschlag im vergangenen Jahr

Für den Konzern geht es dabei nicht nur um lokalen Erfolg in Übersee, sondern um eine weltumspannende Strategie. Der neue Konzernchef Oliver Blume will mit Wachstum auf dem US-Markt ein globales Gegengewicht zum Geschäft in China schaffen. Dort verkauft VW rund 40 Prozent seiner Autos und erzielt Gewinne, von denen das gesamte Unternehmen abhängt. Bis 2030, so die Vorgabe, will der Konzern mit all seinen Marken wie VW, Audi und Porsche in den Vereinigten Staaten einen Marktanteil von 10 Prozent erreichen. Dieser Plan ist alles andere als ein Selbstläufer, denn auch Rivalen fluten den Markt mit neuen Modellen.

Zuletzt machten dem Konzern vor allem Probleme in den Lieferketten zu schaffen. 2021 hatte VW in den Vereinigten Staaten noch zugelegt – und damit die Hoffnung auf eine Wende genährt. 2022 sackte der Absatz dann um fast ein Fünftel auf 301.000 Autos ab. Gleichzeitig baute sich ein Rückstau von mehr als 20.700 reservierten, aber noch nicht ausgelieferten ID.4 auf. Wie in anderen Ländern bremste der Chipmangel die Produktion. Hinzu kamen Engpässe an Batteriezellen, die VW von einem Lieferanten in den USA bezieht. Immerhin sei es gelungen, trotz aller Turbulenzen profitabel zu bleiben. „2021 haben wir in den USA die Gewinnschwelle überschritten, 2022 haben wir eine solide Rendite erzielt“, sagt Di Si, ohne genaue Zahlen zu nennen. Das gelte für die Marke VW ebenso wie für den gesamten Konzern.

In den nächsten Jahren will VW sein Angebot an vollelektrischen Modellen erheblich ausweiten. 2024 soll der ID.Buzz starten, eine Art wiederbelebter Bulli in elektrischer Form, außerdem die Limousine ID.7, die an den Passat erinnert. Di Si kündigt außerdem ein weiteres Modell an, für das die Wolfsburger Vorstandsgremien gerade erst grünes Licht gegeben haben. Details gibt er noch nicht preis. Aber aus Konzernkreisen ist zu hören, dass es sich um ein kompaktes SUV handelt, mit einer Positionierung unterhalb des ID.4.

Dieses Auto soll dann ebenso wie der ID.4, aber im Gegensatz zum ID.Buzz und zum ID.7, auch in Nordamerika gefertigt werden. VW verspricht sich hohe Stückzahlen, anders als etwa vom ID.Buzz, den Di Si eher als „Brand Builder“ sieht, also als Auto, das auf das Image der Marke einzahlt, aber eine überschaubare Käufergruppe anspricht. Gegen Ende des Jahrzehnts soll das Portfolio dann um zwei vollelektrische große SUV wachsen, vergleichbar mit den heutigen Verbrennermodellen Tiguan und Atlas, zwei der verkaufsstärksten VW-Fahrzeuge im Markt. Über all seine Marken hinweg will der Konzern bis 2030 in Amerika 25 Elektroautos im Programm haben. Auf sie soll dann mehr als die Hälfte des Absatzes in der Region entfallen, der Rest auf Verbrenner, die schrittweise herunterfahren.

Für die Fertigung künftiger Elektroautos in Nordamerika kommt nicht nur Chattanooga infrage, sondern auch das Werk im mexikanischen Puebla. VW will zudem eine eigene „Gigafactory“ für Batteriezellen in Nordamerika bauen. Dafür steht neben den USA auch Kanada zur Diskussion. Di Si sagt, das Unternehmen sei in der „Schlussphase“, sich auf einen Standort festzulegen.

Mit seinen Ambitionen im Geschäft mit Elektroautos sieht sich VW starkem Wettbewerb gegenüber, allen voran dem bisherigen Marktführer Tesla . Aber auch etliche andere Hersteller planen große Modelloffensiven, ob amerikanische Unternehmen wie General Motors und Ford oder ausländische Anbieter wie Hyundai/Kia . Tesla bleibt in den USA klarer Spitzenreiter, aber der Marktanteil ist im vergangenen Jahr von 72 auf 65 Prozent geschrumpft. In der Branche wird auch die Frage gestellt, ob Teslas Wettbewerber davon profitieren, dass Vorstandschef Elon Musk zuletzt abgelenkt war, weil er die Onlineplattform Twitter gekauft hat und sich in kontroversen politischen Debatten verstrickte.

„Inflation Reduction Act“ im Fokus

Di Si will sich zum Spektakel um Musk nicht äußern. Von den teils deutlichen Preissenkungen, die Tesla in den vergangenen Wochen angekündigt hat, fühlt er sich nicht unter Druck gesetzt. „Wir haben unsere Preise nicht verändert, und ich sehe keinen Anlass, das in naher Zukunft zu tun.“ Der Startpreis des ID.4 von rund 39.000 Dollar sei wettbewerbsfähig, das bleibe auch so. Tesla hat in jüngster Zeit seine Preise sowohl in den USA als auch in Europa und auf dem wichtigen chinesischen Markt gesenkt. Für das Model 3, günstigstes Fahrzeug von Tesla, wurde der Einstiegspreis in den USA von knapp 47.000 auf 44.000 Dollar reduziert. Für das SUV Model Y ging es noch viel deutlicher nach unten, von 66.000 auf 53.000 Dollar.

Die Preiskalkulation auf dem amerikanischen Markt für E-Autos hat seit Kurzem noch eine weitere Komponente. Der im vergangenen Sommer verabschiedete Inflation Reduction Act sieht hohe Anreize für die Förderung umweltfreundlicher Technologien vor. Dazu gehören Steuergutschriften in Höhe von bis zu 7500 Dollar beim Kauf eines Elektroautos. Das Geld ist aber an Bedingungen geknüpft, die für Unmut in Europa gesorgt haben. Grundvoraussetzung ist, dass die Autos in Nordamerika gefertigt werden. Zusätzlich müssen auch für die Batterien bestimmte Anforderungen erfüllt sein, und hier wird es kompliziert.

Die Hälfte der maximalen Gutschrift, also 3750 Dollar, soll es geben, wenn ein bestimmter Anteil wichtiger Mineralien in den Batterien aus den USA stammt oder aus einem Land, mit dem ein Freihandelsabkommen besteht. Die andere Hälfte fließt, wenn technische Komponenten des Batteriesystems in Amerika gefertigt oder dort montiert werden. Wie genau diese Regeln auszulegen sind, wird aktuell heiß diskutiert. Zu den Fragen gehört, ob die EU trotz eines fehlenden formellen Freihandelsabkommens in die amerikanische Förderkulisse einbezogen wird, ein Modell, das Di Si gutheißt.

Das US-Finanzministerium will die endgültigen Anforderungen bis zum März festlegen. Einstweilen gibt es eine Übergangsphase, die gut für VW ist. Denn seit Jahresbeginn werden Steuergutschriften nach dem Kriterium vergeben, wo die Endmontage eines Fahrzeugs läuft. Käufer eines in Chattanooga hergestellten ID.4 können die komplette Förderung von 7500 Dollar einstreichen. Je nachdem, wie die Batterieregeln ausfallen, kann sich das aber wieder ändern. Der nächste sichere Anwärter für die Förderung ist nach aktuellem Stand das kompakte SUV, über das der Konzern gerade entschieden hat.

Zu wenig Ladesäulen in Amerika

Di Si hält den Inflation Reduction Act für „transformierend“. Er rechnet damit, dass das Programm dem Aufbau der E-Mobilität in den Vereinigten Staaten einen Schub gibt, ebenso wie strengere Emissionsstandards in einer Reihe von Bundesstaaten. Vergangenes Jahr standen Elektroautos für knapp 6 Prozent des Marktes, deutlich mehr als 2021, aber viel weniger als in Europa und erst recht in China. Di Si erwartet für die kommenden Jahre in den USA „exponentielles Wachstum“. 2030 werde die Hälfte des Marktes auf Elektroautos entfallen.

Ein Hindernis bleibt die unzureichende Ladeinfrastruktur. Di Si sieht das Land aber auf guten Weg. Die VW-Tochtergesellschaft Electrify America, 2017 als Teil der Wiedergutmachung im Dieselskandal gegründet, entwickle sich zur Erfolgsgeschichte, betont er. Rund 3500 Ladestationen betreibt das Unternehmen an 800 Standorten. Noch ist Teslas Netz deutlich größer, doch Di Si will die Präsenz von Electrify America bis 2025 verdoppeln. Zusammen mit den Investitionen der Wettbewerber erreiche das Land bald eine kritische Masse, um flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. Auch Mercedes hatte kürzlich angekündigt, in diesem Jahr mit dem Aufbau eines eigenen Ladenetzes in den USA zu beginnen. All die Projekte, die rund um Ladestationen und Batteriefertigung entstehen, wertet Di Si als Beleg für eine Offensive der ganzen Branche. „Das explodiert jetzt. Die USA werden in drei Jahren anders aussehen, weil so viel investiert wird.“

Aus Fehlern in den USA habe der Konzern gelernt. Anders als früher sei die Modellpalette für die Zukunft gut aufgestellt. Als plastisches Beispiel, dass VW die amerikanischen Wünsche verstanden hat, nennt er die 17 Getränkehalter im Atlas-SUV. Europäer würden über so etwas nur müde lächeln, doch gerade die fehlenden „cupholder“ waren VW in der Vergangenheit in den USA immer wieder angekreidet worden. Auch den Dieselskandal beschreibt Di Si als weitgehend abgehakt. „Amerikaner verzeihen schnell, wenn man sich entschuldigt“, sagt er. Heute habe VW eine viel stärkere Unternehmenskultur. Darauf will der Amerikachef aufbauen, mit hohen Zielen und sportlichem Ehrgeiz.

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