- Deutsche Umwelthilfe will Diesel stilllegen lassen
- VW: „Es sind keine Nachrüstungen erforderlich“
- Das müssen Autofahrer jetzt wissen
- 1. Was ist überhaupt ein „Thermofenster“?
- 2. Sind jetzt wirklich Millionen Diesel-Fahrzeuge vom Abgasskandal betroffen?
- 3. Drohen neue Rückrufe oder Stilllegungen?
- 4. Könnten die Autos nachgerüstet werden?
- 5. Können Fahrzeugkäufer ihren Diesel an den Hersteller zurückgeben?
- 6. Sind viele Ansprüche nicht bereits verjährt?
- 7. Sind als nächstes die Benziner dran?
Abgase kommen aus dem Auspuff eines Volkswagen Tiguan. Ole Spata/dpa/Symbolbild
Nach dem Abgasskandal wurden Millionen Dieselautos von Volkswagen und anderen Herstellern umgerüstet, um weniger Stickoxide auszustoßen. Doch das reicht nach einem neuen Gerichtsurteil nicht aus. Drohen nun Fahrverbote für Millionen Autofahrerinnen und Autofahrer?
Die Kammer hält unter anderem sogenannte Thermofenster für unzulässige Abschalteinrichtungen, die das KBA nicht hätte genehmigen dürfen. Beigeladene waren die zum Volkswagen Konzern gehörenden Autohersteller Volkswagen, Audi und Seat (Az. 3 A 332/20). Betroffene sind 62 ältere Modelle verschiedener Marken des Volkswagen-Konzerns. Abschalteinrichtungen sind nur zulässig, wenn sie unmittelbar Schäden am Motor verhindern, sagte der Kammervorsitzende. Das treffe hier nicht zu.
Deutsche Umwelthilfe will Diesel stilllegen lassen
DUH-Chef Resch sagte, Verkehrsminister Volker Wissing (FDP), dem das KBA untersteht, müsse die „Kumpanei mit den betrügerischen Dieselkonzernen“ beenden. Es geht um den „Gesundheitsschutz von Millionen Dieselabgasgiften ausgesetzten Menschen“. Resch forderte Wissing auf, die betreffenden Dieselfahrzeuge stillzulegen oder eine sogenannte Hardware-Nachrüstung einbauen zu lassen. Die DUH hatte in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Klagen mehrere Diesel-Fahrverbote durchgesetzt. Diese wurden mittlerweile jedoch wieder abgeschafft, da es nur noch in wenigen Städten Überschreitungen der von der EU verordneten Stickoxid-Grenzwerte gibt. Abgasskandal geht weiter – VW, Audi, Seat und Skoda: Vier Millionen weitere Autos manipuliert – lohnt sich eine Klage?
VW: „Es sind keine Nachrüstungen erforderlich“
Nach Ansicht von Volkswagen schützt hingegen „das vom KBA geprüfte und richtigerweise bestätigte Thermofenster (…) vor unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigungen oder Unfällen“. Die Risiken sind den Angaben zufolge so schwerwiegend, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des Fahrzeugs darstellen können. „Fahrzeuge ohne Thermofenster sind daher nicht genehmigungsfähig“, teilte das Unternehmen mit. Es betonte, dass weder behördliche Stilllegungen drohen noch Hardware-Nachrüstungen erforderlich seien.
Das müssen Autofahrer jetzt wissen
Das Kraftfahrt-Bundesamt hat auf eine Anfrage bisher nicht reagiert. Nach Informationen von FOCUS online hatte das Verkehrsministerium die Niederlage vor Gericht bereits einkalkuliert und wartet nun auf die nächste Instanz, so dass eine endgültige Entscheidung möglicherweise erst Ende 2024 oder Anfang 2025 fallen könnte. Dennoch gibt es nach Ansicht von Rechtsexperten schon durch das jetzige Urteil für klagewillige Autobesitzer neue Möglichkeiten. FOCUS online beantwortet die wichtigsten Fragen.
1. Was ist überhaupt ein „Thermofenster“?
Thermofenster steuern die Abgasreinigung abhängig von der Außentemperatur. Diese Software, die von vielen Automobilherstellern verwendet wird, funktioniert nur innerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs einwandfrei. Dadurch stoßen die Fahrzeuge insbesondere bei niedrigen Außentemperaturen mehr Stickoxide aus als gesetzlich vorgesehen.
Eine zeitweise Abweichung war beim damaligen technischen Stand grundsätzlich erlaubt, jedoch nur innerhalb bestimmter Grenzen und wenn eine reduzierte Abgasrückführung den Motor unmittelbar schädigen würde. Der Bundesgerichtshof in Deutschland hat Schadenersatzklagen von Fahrzeugkäufern allein wegen des Thermofensters bislang zurückgewiesen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat diese Grenzen in einer Präzisierung der Rechtsprechung jedoch sehr eng gezogen. Auf Anfrage von FOCUS online sagte das KBA zum ersten im Februar 2023 gefällten Urteil: „Der EuGH hat mit Urteil vom 8. November 2022 (Az. C-873/19) entschieden, dass eine Abschalteinrichtung wie das ‘Thermofenster’ zulässig ist, wenn sie unmittelbar Unfall- oder Beschädigungsrisiken für den Motor vermeidet und eine konkrete Gefahr im Fahrzeugbetrieb darstellt. Nach Auffassung des Kraftfahrt-Bundesamtes liegen diese Voraussetzungen in den streitgegenständlichen Fahrzeugen der Volkswagen AG vor.“
2. Sind jetzt wirklich Millionen Diesel-Fahrzeuge vom Abgasskandal betroffen?
Betroffen wären dann nicht nur die bekannten „Skandal-Diesel“ von VW und Audi, bei denen wissentlich Betrugssoftware eingesetzt wurde, sondern auch eine große Zahl von Diesel-Fahrzeugen anderer Hersteller, bei denen die vom KBA genehmigten Thermofenster nachträglich als nicht regelkonform bewertet werden müssten. Also nicht nur bei VW , sondern auch bei Mercedes, BMW, Toyota, Nissan, Mazda, Hyundai, Renault, Opel und vielen anderen Herstellern.
3. Drohen neue Rückrufe oder Stilllegungen?
Auch hier gilt: Theoretisch ja, denn ohne gültige Zulassung dürften die Fahrzeuge nicht mehr fahren. Sie müssten dann vom KBA stillgelegt werden. Auf Anfrage von FOCUS online sagte die Behörde im Februar 2023: „Das Kraftfahrt-Bundesamt wird die Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts nach Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe prüfen und über weitere Maßnahmen entscheiden.“ Das Aus ab 2035 – Die drei Irrtümer des Verbrenner-Verbots
Nach Informationen von FOCUS online aus Regierungskreisen ist derzeit keine Stilllegung geplant. Für den Fall, dass auf Druck der EU-Gesetzgebung tatsächlich eine Stilllegung erfolgen würde, müsste diese auch verhältnismäßig sein, schließlich würde es sich um einen erheblichen Eingriff in den Besitz der betroffenen Autofahrerinnen und Autofahrer handeln und es würde zu Klagen nicht nur gegen die Autohersteller, sondern wohl auch gegen die Behörden kommen.
4. Könnten die Autos nachgerüstet werden?
Die betroffenen Fahrzeuge entsprechen in ihrer Grundkonstruktion bei der Abgasreinigung etwa dem Stand der technischen Machbarkeit im Jahr 2008. Die von der DUH ins Spiel gebrachte Möglichkeit einer sogenannten Hardware-Nachrüstung ist unrealistisch, da sie für viele Fahrzeugmodelle nicht verfügbar ist, in den benötigten Mengen nicht produziert und eingebaut werden könnte und für die Besitzerinnen und Besitzer der Fahrzeuge auch mit erheblichen Nachteilen verbunden wäre, wie eine verminderte Motor-Haltbarkeit sowie ein erhöhter Verbrauch und CO2-Ausstoß ( mehr zum Thema lesen Sie hier ). Leichter durchzuführen wäre ein solcher Umbau immerhin bei größeren Fahrzeugen wie Wohnmobilen und Transportern, wo der benötigte Bauraum vorhanden ist. Bei Fahrzeugen, die bereits über ein sogenanntes SCR-System verfügen – das ist ein spezieller Katalysator, der Stickoxide mit dem Zusatz AdBlue unschädlich macht – wären immerhin Anpassungen möglich, wie zum Beispiel eine erhöhte Einspritzrate von AdBlue. Neue Modelle ab der Abgasnorm Euro 6d haben ein SCR-System standardmäßig an Bord. Diesel-Fahrverbot – Diesel umrüsten lassen? Das ist rausgeworfenes Geld
5. Können Fahrzeugkäufer ihren Diesel an den Hersteller zurückgeben?
Nach Ansicht von auf den Diesel-Skandal spezialisierten Anwälten wird es nun eine neue Klagewelle gegen viele Autobauer geben – spätestens dann, wenn die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts bestätigt wird. Die Autos hätten dann einen Mangel, der – analog zu den erfolgreichen Klagen vor allem gegen VW und Audi sowie zum Teil auch Mercedes – Käuferinnen und Käufern eine Rückabwicklung des Kaufvertrags ermöglichen würde . Allerdings sollten dabei zwei Punkte bedacht werden:
- Bei der Rückgabe wird eine Nutzungsentschädigung für die Zeit, in der der Wagen gefahren wurde, vom erstatteten Kaufpreis abgezogen. Je älter das Fahrzeug ist, desto weniger bekommt also der Kläger zurück. Bei teuren Premium-Modellen mit hohem Restwert könnte es sich allerdings lohnen.
- Gerade ältere Diesel ohne komplexe Abgasreinigung gelten als besonders langlebig und zuverlässig. Man sollte sich also überlegen, ob die zu erwartende Entschädigungssumme bei den aktuell hohen Gebraucht- und Neuwagenpreisen reicht, um ein gleichwertiges oder besseres Modell als Ersatz zu finden, unabhängig von der Antriebsart.
6. Sind viele Ansprüche nicht bereits verjährt?
FOCUS-online-Rechtsexperte Maco Rogert glaubt, dass die Verjährung für Kläger kein Hindernis ist: „Es sind aus meiner Sicht sämtliche Diesel-Fahrzeuge betroffen, bei denen die absolute Verjährungsfrist von 10 Jahren (§ 199 Abs. 3 Nr. 1 BGB) seit dem Fahrzeugerwerb noch nicht abgelaufen ist und in denen eine temperaturgeführte Abschalteinrichtung verbaut ist. Nach meinem Kenntnisstand sind das vermutlich sämtliche dieser Fahrzeuge. Es dürfte auch keine Rolle spielen, ob die Fahrzeuge als Neu- oder als Gebrauchtwagen gekauft wurden. Alle diese Fahrzeuge sind gleichzeitig von der behördlichen Stilllegung bedroht“, so Rogert.
7. Sind als nächstes die Benziner dran?
Nach Rogerts Ansicht ist das möglich: „Auch Benziner weisen derartige temperaturgeführte Abschalteinrichtungen auf. Das Urteil lässt sich 1:1 auf Benziner übertragen. Nach meiner Auffassung kann auf der Basis dieses Urteils – sofern es Bestand hat – vermutlich jedes Verbrennerfahrzeug rückabgewickelt werden, das in den letzten 10 Jahren erworben wurde“, so der Anwalt.