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Diesel-Abgasbetrug: EuGH eröffnet neue Wege zu Schadenersatz-Klagen

Der Europäische Gerichtshof stuft Abgasnachbehandlungen nun auch als unzulässig ein, wenn sie fahrlässig unterdimensioniert wurden. Das eröffnet neue Klagewege.

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Der Mercedes-Dieselmotor OM651 wurde 2008 vorgestellt und in diversen Formen angeboten und wurde mit unzureichender Abgasnachbehandlung ausgeliefert. In der C-Klasse gab es ihn bis 2018. Dann wurde er durch den OM654 ersetzt.

(Bild: Daimler)

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) senkt die Hürden für Schadenersatz-Klagen von Diesel-Käufern bei unzulässiger Abgastechnik. Die Autobauer könnten auch dann haften, wenn sie ohne Betrugsabsicht einfach nur fahrlässig gehandelt hätten, urteilten die Luxemburger Richter.

Große Auswirkungen auf die Rechtsprechung

Das könnte große Auswirkungen auf die deutsche Rechtsprechung haben. Denn beim Bundesgerichtshof (BGH) hatten Klägerinnen und Kläger bisher nur dann eine Chance auf Schadenersatz, wenn sie vom Hersteller bewusst und gewollt auf sittenwidrige Weise getäuscht wurden. Diese strengen Kriterien waren nur beim VW-Motor EA189 erfüllt. Dem EuGH genügt nun fahrlässiges Handeln – was sich leichter nachweisen lässt.

Die Richter in Deutschland müssen diese Vorgaben jetzt umsetzen. Um das EuGH-Urteil abzuwarten, hatten Gerichte aller Instanzen massenhaft Diesel-Verfahren auf Eis gelegt, bei denen es auf diese Frage ankommt. Allein beim BGH sind im Moment mehr als 1900 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden anhängig, die deutliche Mehrzahl war wegen des EuGH-Verfahrens erst einmal zurückgestellt worden.

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Längst nicht alle Fragen geklärt

Der “Dieselsenat” des BGH hat für den 8. Mai 2023 bereits eine Verhandlung terminiert, in der er die sich “möglicherweise ergebenden Folgerungen für das deutsche Haftungsrecht” erörtern will, um den unteren Instanzen möglichst schnell Leitlinien an die Hand zu geben. Denn mit dem EuGH-Urteil sind noch längst nicht alle Fragen geklärt. Offen ist zum Beispiel, wie viel Geld betroffenen Autokäufern zusteht.

Hintergrund des Verfahrens war eine Schadenersatz-Klage aus Deutschland gegen Mercedes-Benz wegen eines sogenannten Thermofensters. Thermofenster sind Teil der Motorensteuerung, die bei Temperaturen unter einer gewissen Grenze die Abgasnachbehandlung drosseln. Autohersteller argumentieren, das sei notwendig, um den Motor zu schützen. Umweltorganisationen sehen darin hingegen ein Instrument, das dabei hilft, die Emissionen von Autos unter Testbedingungen kleiner erscheinen zu lassen, als sie es im realen Straßenverkehr sind. Der EuGH erachtet diese Thermofenster nur in ganz engen Grenzen als zulässig.

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Was sind “Thermofenster” eigentlich?

Der Begriff “Thermofenster” hat sich als etwas saloppe Bezeichnung für Abschalteinrichtungen eingebürgert, die nur in bestimmten Temperaturbereichen (Ingenieure nennen Bereiche gern “Fenster”) arbeiten. Dadurch baut die Abgasnachbehandlung giftige Stickoxide – soweit innerhalb der Systemgrenzen möglich – nur dann ab, wenn in der Motorsteuerung einprogrammierte Temperaturgrenzen erreicht werden. Die Hersteller begründen diese Art der Steuerung mit einem sogenannten “Bauteileschutz”. Das haben sie so erfolgreich kommuniziert, dass wir in unseren Foren häufig lasen, dass es am Dieselmotor läge, wenn die Abgasentgiftung nicht funktioniere. Das stimmt so nicht. Es lag vielmehr im Interesse der Hersteller, die Abgasnachbehandlung kostenoptimiert zu gestalten.

Gemeint ist, dass die Steuerung unterhalb einer gewissen Temperatur weniger Abgas zur Verbrennung in den Motor zurückführt. Weil damit mehr Sauerstoff zur Verbrennung zur Verfügung steht, wird die Verbrennung effizienter und läuft mit höherer Temperatur ab. Eigentlich gut, weil eine ungestörte Verbrennung den Motor sparsamer macht. Allerdings entsteht dann bei der Verbrennung mehr schädliches Stickoxid (NOx) aus dem Stickstoff in der Atmosphäre. Dieses Gas muss im Katalysator abgebaut werden, um die Abgasgrenzwerte einzuhalten.

Wirksame Katalysatoren wären möglich

Bei sogenannten Speicherkats ist die Abgasrückführung praktisch die einzige Möglichkeit, den Stickoxid-Ausstoß zu reduzieren. Die sogenannten SCR-Katalysatoren bieten darüber hinaus eine direkte Regelmöglichkeit: Bei ihnen kann die Menge des eingespritzten Harnstoffs dem Stickoxid-Anteil im Rohabgas nachgeführt werden. Bei beiden kann NOx-Anteil im Rohabgas bei ungenügender Dimensionierung die Leistungsfähigkeit des Katalysators überschreiten.

Es gibt also zwei Möglichkeiten, die Abgasnachbehandlung effektiv zu gestalten und damit die Grenzwerte einzuhalten: Eine ausreichende Dimensionierung der Anlage und/oder eine genügende Menge an eingespritztem Harnstoff. Beide Eingriffsmöglichkeiten unterliegen der Steuerung innerhalb des Thermofensters. Was den Herstellern vorgeworfen wird, ist, dass sie ihre Anlagen und die Harnstoffeinspritzung gerade mal groß genug dimensioniert haben, dass ihre Funktion für den Messzyklus auf dem Prüfstand ausreichte. Um das zu erreichen, nutzten sie die Steuerungsmöglichkeiten des Thermofensters.

Verkaufsargument “Kundenkomfort”

Auf der Straße unter Realbedingungen hingegen kann der Motor je nach Fahrweise und Lastanforderung (etwa längere Zeit steil bergauf) eine unterdimensionierte Anlage über ihre Grenzen bringen. Die Gründe für diese Unterdimensionierung liegen auf der Hand: Zum einen sind es die günstigeren Produktionskosten einer kleineren, nur für den Prüfstand konstruierten Anlage – Katalysatoren sind teuer. Zum anderen ist es das Verkaufsargument “Kundenkomfort”: So wurde Daimler unter anderem vorgeworfen, zu wenig Harnstoff einzusetzen, um dem Kunden ein Nachfüllen zwischen den Serviceterminen zu ersparen.

Bei Audi hatte man sich für zu kleine Harnstofftanks entschieden, um den Kofferraum nicht zu sehr einzuschränken. Kompensiert wurde das konzernweit mit entsprechend gestalteten Thermofenstern, um den Harnstoffverbrauch entsprechend senken zu können. Dazu kommt, dass eine wirksame Abgasentgiftung den CO₂-Ausstoß (also den Verbrauch) ansteigen lässt, was die Hersteller wiederum wegen der strengen Flottenverbrauchsvorschriften gern vermeiden.

Thermofenster wurden auch von anderen Herstellern standardmäßig eingesetzt. Da sich das EuGH-Urteil auf unzulässige Abschalteinrichtungen allgemein bezieht, könnte es auch auf andere Funktionalitäten in der Abgastechnik von Diesel-Autos übertragbar sein, die derzeit von Gerichten unter die Lupe genommen werden.

(fpi)

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